Beware of the mad woman in the attic

Jane Eyre gilt als erste emanzipierte Frau der Literaturgeschichte. Sie trägt nicht den Namen ihres Mannes wie Anna Karenina oder wird durch die Tatsache, dass sie gar keinen Nachnamen besitzt ihrer Identität beraubt wie Carmilla oder Clarissa.

Jane Eyre als Vorbild der Emanzipation

Jane besitzt einen eigenen Nachnamen und dadurch eine eigene Identität. Sie ist gebildet, weiß was sie will und hat ihre Prinzipien. Sie ordnet sich nicht dem Willen des – zugegebenermaßen sehr anziehenden, düsteren Helden – Mr. Rochester unter. Jane Eyre behält ihre Unabhängigkeit und erst als Mr. Rochester gebrochen und auf ihre Hilfe angewiesen ist, kehrt sie zu ihm zurück.

Jane Eyre widerspricht dadurch den Frauenfiguren des 19. und frühen zwanzigsten Jahrhunderts, die aus Liebe zu einem Mann ihre Identität aufgeben. Auch von den Ehebrecherinnen der Romanliteratur unterscheidet sie sich, welche zu gesellschaftlichen Außenseiterinnen werden und wie Anna Karenina oder Effi Briest die Wahl zwischen einem würdelosen Tod oder einer erbarmungswürdigen Existenz am Rande der Gesellschaft besitzen.

Jane Eyers dunkle Schwester

Doch hat Jane im Roman eine Gegenspielerin. Sie weiß nicht, dass Mr. Rochester ein dunkles Geheimnis hat, eine wahnsinnige Frau aus seiner verschwiegenen Ehe, die er auf dem Dachboden versteckt und dort wie ein wildes Tier hält. Sie kommt als Sinnbild für Bedrohung durch das Unterbewusste und unterdrückte Ängste des Nachts hervor und schreckt Jane aus dem Schlaf auf, erscheint dabei wie ein dunkles Gespenst oder ein düsterer Alptraum.

Diese geheimnisvolle und gesichtslose Figur wird als namenlose Verrückte charakterisiert. Wir erfahren zwar zu späterer Stelle ihren Namen: Bertha, allerdings wird sie im Roman als identitätslose, viehisch und tierische Getriebene dargestellt. Sie scheint von dämonischen Mächten getrieben und verkörpert so triebhafte Prinzipien, Ängste und Unkontrollierbares.
Vergleichbar ist sie damit einer Romanfigur des 19. Jahrhunderts die ebenfalls das Tierische, Triebhafte und Unterbewusste im Menschen verkörpert: Mr. Hyde – das Monster, in welches sich der kultivierte Dr. Jekyll verwandelt, sobald er seinen Trunk genommen hat und welches er bald nicht mehr kontrollieren kann.

Der Dachboden: ein verborgener Raum der Seele

So ist der Dachboden, auf dem die namenlose Verrückte ihr Unwesen treibt, ein Sinnbild für den verborgenen Raum, den jeder von uns in seiner Seele trägt. Hier sind die unbewussten Sehnsüchte, Träume und Ängste versteckt vor denen wir uns fürchten und wie in Jane Eyre, gelangen sie des Nachts hinaus und suchen uns in unseren Träumen heim.

Der Roman lehrt uns auch, was passiert wenn wir uns dieser düsteren Seite nicht stellen: sie wird übermächtig, nicht mehr kontrollierbar und uns schließlich erheblichen Schaden zufügen. So kann Mr. Rochester die Verrückte irgendwann nicht mehr im Zaum halten und im Feuer, welches diese im Haus entzündet, kommt nicht nur sein Besitz zu Schaden, sondern er verliert sein Augenlicht und büßt seine Gesundheit.

Entsprechend bezeichnet die Psychologie bildhaft nicht verarbeitete Traumata oder verborgene, verdrängte Belastungen mit dem Topos[1] aus dem Roman.

Inspiration

Entsprechend stark ist das Sinnbild und gehört zu den eindrücklichsten Schilderungen von Verrücktheit in der Literatur des 19. Jahrhunderts. So wurde die Figur der Bertha Rochester bzw. das Bild der Verrückten zur Inspiration von Kunst, Literatur und Film. Von Hitchcock bis zu Dr. Who, von der feministischen Literatur bis zum Psychothriller, von Hochkultur bis Subkultur wurde das Motiv verarbeitet.

Bedrohung durch die Verrückte: von Rebecca zu Alfred Hitchcocks Psycho

Im Jahr 1939, fast ein Jahrhundert nach Charlotte Brontes Veröffentlichung, schrieb Daphne du Maurier den Roman Rebecca. In meisterhafter Weise wird hier das Motiv der Verrückten auf dem Dachboden aufgegriffen. Spannend verquickt die Schriftstellerin Elemente des Krimis und der Gothic Novel mit einer Liebesgeschichte, die sich durch Spannungsaufbau und psychologische Durchdringung auszeichnet.
Erzählt wird die Geschichte einer jungen Gesellschafterin, die den deutlich älteren Maxim de Winter heiratet und ihm auf sein Landsitz Manderly folgt. Dort ist die angeblich verstorbene Ehefrau Rebecca noch immer präsent und scheint nach nach Bertha Rochesters Vorbild die junge Ehefrau zu verfolgen und heim zu suchen.

Alfred Hitchcock verfilmte das Buch bereits im Jahre 1940 und variierte das Motiv der nicht körperlich Anwesenden, doch die Protagonisten zum Wahnsinn treibenden Frau, die sich im Haus verborgen hält in seinem zwanzig Jahre später entstandenen Meisterwerk Psycho. Auch hier finden wir die entsprechenden Ingredienzien: die junge, unerfahrene Frau, in diesem Fall nicht Jane, sondern Marion genannt; den getriebenen, von einer Last besessenen, aber doch anziehenden düsteren Protagonisten, der sich als Norman Bates vorstellt. Und Freud hätte seine helle Freude an der Variation des Themas gehabt, keine dämonische Frau aus vorhergehender Ehe, die sich im düsteren Haus versteckt, sondern die Mutter. Die Mutter wird hier gleichsam zur unterbewussten Triebkraft und zum längst mumifizierten Über-Ich. Auch sie scheint das Haus, welches ein Sinnbild der menschlichen Seele ist, wie schon Bertha Rochester, auf unheimliche Weise in Besitz genommen zu haben.

Mitgefühl und Empathie: Cracker

Anfang der 1990er Jahre lenkte die britische Fernsehserie Crackers Literatur und Filmgeschichte in andere Bahnen. Düster und von dunkler Ästhetik, schließt die Serie direkt an den Film Noir an. Durch seine sozialkritischen Inhalte, die häufig im Milieu der britischen Unterschicht angesiedelt und seine ungeschönte Wiedergabe von Gewalt und Sexualität wurde die Serie zum Skandal und damit auch zum Quotenhit. Hauptfigur ist der Psychologe Fitz, selbst eine von Selbstzerstörung und Misanthropie zerfressene Figur, die jedoch durch ihre Fähigkeit zur empathischen Einfühlung und Manipulation, die von Psychopaten und Serienmördern begangenen Taten aufgedeckt und durch psychische Prozesse erklärt.

Die erste Episode der Serie trägt bedeutsamer Weise und das kann als Motto der gesamten Produktion gesehen werden: The mad woman in the attic. Sexuell konnotierte Morde werden hier von der dunklen Macht, welche die Verrückte auf dem Dachboden verkörpert, motiviert. Auch hier ist sie, wie schon in Hitchcocks Psycho zur Mutterfigur geworden, die obschon verstorben, im Kopf des Täters – dem Dachboden vergleichbar – noch immer präsent ist. Auch wenn die Taten verurteilt werden, blickt Fitz hier hinter die Fassade des Bösen und gelangt durch seine Einfühlung in den Täter zu einer im Grunde bemitleidenswerten und hilfsbedürftigen Figur.

Die Verrückte als Kampffigur: Feminismus und Anti-Rassismus

In Wide Sargasso Sea aus dem Jahr 1966 erzählt Jane Rhys in Form eines Prequel zu Jane Eyre die Geschichte von Bertha Rochester, der sie den ursprünglichen Mädchennamen Antoinetta Maison gibt. Hier wird der Wahnsinn der Protagonistin durch traumatische Kindheitserlebnisse, den tragischen Tod des Bruders und die familiäre Anlage zur psychischen Labilität erklärt.

Die Autorin schafft eine Identifikation und Einfühlung in Bertha Rochester, die im Roman als starke Frau charakterisiert wird und als Opfer von Rassismus, Ignoranz und Unterdrückung dargestellt. Ihre Sensibilität, die Zurückweisung des Ehemann aufgrund ihrer Creolischen Herkunft und das Brechen ihres Willens führen zu Verzweiflung und Selbstaufgabe. Die Verrückte wird von einer dämonischen Kraft in ein bedauernswertes Opfer transformiert.

Auch heute noch spukt sie auf dem Dachboden

Festhalten lässt sich, dass Jane Eyre auch 170 Jahre nach seiner Entstehung nicht an seiner Faszination eingebüßt hat. So ist das Buch auch heute noch ein Meisterwerk der Literaturgeschichte und die Verfilmungen fesseln den Betrachter noch immer. Ob als Metapher für psychische Prozesse in Psychologie und Wissenschaft oder als Inspiration für Filme und neue Romane bleibt das Bild der Verrückten, die eine geheimnisvolle Existenz auf dem Dachboden fristet auch heute präsent.

[1] Unter einen Topos versteht man einen Gemeinplatz, eine stereotype Redewendung, ein vorgeprägtes Sprachbild, ein Beispiel oder Motiv.

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