Wo ist sie die Langeweile? In einer Zeit, in der wir von Dauerstress, ständiger Erreichbarkeit und – zugegebenermaßen oft sinnlosem – andauernden Statusbestimmungen auf sozialen Netzwerken umgeben sind, ist uns dieser Geisteszustand scheinbar abhandengekommen.
Doch brauchen wir sie wie die Luft zum Atmen, denn die Langeweile ist eine Ruhepause des Geistes. Wir brauchen sie zum Luft holen, um Kraft zu schöpfen, zum Innehalten, zu „neuprogrammieren“, um überhaupt wieder kreativ, geistesgegenwärtig und aufnahmefähig zu sein.
Langeweile ist ein Zustand, in welchem wir keiner Tätigkeit nachgehen und uns deshalb unserer Selbst und unserem Sein in der Zeit bewusstwerden. Ein Zustand, der schwer zu ertragen ist, da er uns zwingt, uns selbst zu orten und zu orientieren. Gleichzeitig ist diese Neuorientierung aber auch eine Chance in der Auseinandersetzung mit sich selbst einen bewussten Umgang mit der Zeit zu finden.
Langeweile in der Kindheit
Langeweile und Regenwetter gehören zusammen, genauso wie Spaghetti Napoli und Parmesan, Topf und Deckel oder Schnecke und Haus. Wer erinnert sich nicht an die scheinbar ewig andauernden Regentage in der Kindheit. Alle Spiele sind gespielt, die Hörbücher gehört und scheinbar bleibt nichts zu tun. Um Freunde zu besuchen, denen es sicherlich genauso geht, müsste man ja in den Regen hinaus.
So bleibt nichts anderes als der kleinen Schwester auf die Nerven zu fallen oder die Mutter zu bedrängen mit den folgenden Fragen: Mama, mir ist langweilig, was kann ich tun? Fällt Dir ein Spiel ein? … und selbstverständlich lautet in einer solchen Stimmungslage die Antwort auf jeden neuen Vorschlag: „Mhhhh, Nööö! keine Lust!“
Und jeder erinnert sich sicherlich wie langsam in solchen Momenten die Zeit dahinkroch. Sie wollte scheinbar gar nicht vergehen. Trotzdem habe ich solche Regentage in positiver, fast wehmütiger Erinnerung. Der graue Regenvorhang vor dem Fenster, das laute Pratzeln und Plätschern und dazu ein Stück gefühlte Ewigkeit.
Doch gab es auch andere Situationen. Situationen, in welchen die Langeweile aufgezwungen war. Physik- oder Mathematikstunden, in denen man sich zwang möglichst selten auf die Uhr zu sehen. Und man war dann doch immer wieder erstaunt, dass nach einer gefühlten Ewigkeit der Zeiger nur ein winzig kleines Stückchen vorgerückt war. Gerade in Physik schien es manchmal so als würde sogar der Sekundenzeiger festhängen. – Was Einstein wohl dazu gesagt hätte?
Doch manchmal, wenn man Glück hatte und der Blick aus dem Fenster schweifte, füllte sich der Kopf mit Träumereien, Farben, Ideen und Fantasien. Und Schwupp fühlte sich der Sekundenzeiger bemüßigt, Gas zu geben und man konnte gar nicht mehr zu Ende denken, da schon die Pausenglocke schellte.
Langeweile als Voraussetzung für Kreativität
Tatsächlich haben Forscher herausgefunden, dass die Leere im Kopf, die durch Langeweile entsteht, die Kreativität fördert. Immer neuer Input, ein Zuviel an Eindrücken lähmt hingegen und bremst das eigene Denken. Früher empfohlene Kreativtechniken, die als Inspiration oder Impuls visuelle und akustische Eindrücke oder gar Brainstorming empfahlen, laufen folglich fehl.
Ein einsamer Spaziergang, ein leeres Zimmer, keine Musik, keine Störung. Dies sind die Situationen, in denen sich erst die Langeweile und damit das Bewusstsein für das Verstreichen von Zeit breitmacht, worauf dann in der Stille des Kopfes Neues wachsen und entstehen kann.
Tatsächlich kann ich diese Forschungsergebnisse durch meine eigene Erfahrung bestätigen. Mir geht es genauso. Am besten schreibe und male ich in der frühe des Morgens, wenn noch keiner wach ist. Zuerst gehe ich in der leeren Wohnung auf und ab, hoffend, dass mein Mann noch ein Stündchen schläft und mich nicht aus meiner Muße reißt. Und schließlich, ganz langsam zwischen jedem Schluck Tee und jedem Schritt schleichen die Ideen erst unmerklich ins Bewusstsein, um dort zu wachsen. Das ist dann der Zeitpunkt, in welchem die Langeweile überwunden ist und ich mich sofort hinsetzen und den flow des Moments nutzen muss.
Viele Künstler vergangener Zeiten wie Goethe beschreiben diese Prozesse und selbst für den im Minimalismus geübten Betrachter der heutigen Zeit erscheint beispielsweise das Atelier von Caspar David Friedrich ungewöhnlich karg. Friedrich schloss jegliche Sinnesreize und die äußere Welt aus, um in der Leere die Inspiration zu finden. Der Künstler selbst hat es so geäußert:
„Schließe dein leibliches Auge, damit du mit dem geistigen Auge zuerst siehst dein Bild. Dann fördere zutage, was du im Dunkeln gesehen, dass es zurückwirke auf andere von außen nach innen.“
Kreativitätsforscher empfehlen tatsächlich die oben beschriebenen Techniken vollständige Ruhe, Nichtstun, innere Leere und Kontemplation als Vorläufer kreativer Phasen. Rainer Holm-Hadulla ist Professor für Medizin an der Universität in Heidelberg und widmet sich der Erforschung kreativer Potentiale im Menschen. Er spezifiziert die so genannte „kreative Langeweile“ und beschreibt, dass wir in Momenten kreativ werden, in denen wir nicht auf eine Tätigkeit konzentriert sind, sondern unser Hirn sich im Leerlauf befinden. Er beschreibt Situationen wie das Warten an der Haltestelle, die Tasse Tee am frühen Morgen oder die Ruhepause zwischendurchführt als Momente, in welchen sich Ideen formen.
In einem Interview mit dem Handelsblatt erklärt Holm-Hadulla die Prozesse im Gehirn folgendermaßen: „Die Gedanken schweifen lassen. Die Kreativitätsforschung weiß inzwischen: Im sogenannten nicht fokussierten Denken sind die assoziativen Hirnareale am aktivsten. Vereinfacht gesagt: Lassen Sie keinen Stress entstehen und sich nicht durch überflüssige Aktivitäten ablenken. Sie müssen die kreative Langeweile ertragen.“
Byung Chul Han – Pladoyer für die Langeweile
Auch der koreanisch stämmige Philosoph Byung Chul Han, der an der Universität in Berlin lehrt, appelliert an die Menschen der Moderne, wieder Raum für die Langeweile zu lassen. In seinem Bestseller „Die Müdigkeitsgesellschaft“ formuliert er die Kernthese, dass wir durch den modernen Lebensrhythmus nicht mehr zur Ruhe kommen. Wir leben in der Illusion frei zu sein und zu entscheiden. Tatsächlich ist die vom System suggerierte Freiheit nur eine Illusion und wir beuten uns selbst aus, indem wir ständig funktionieren, in Tätigkeit gefangen sind und uns keine Zeit zu Ruhe oder Kontemplation mehr nehmen.
Byung Chul Han fordert den modernen Menschen zur vita contemplativa auf. Einer Lebensweise, die nicht als ein Leben in Untätigkeit verstanden werden darf, sondern eine Lebensauffassung, die durch den Raum für Reflektion und Kontemplation uns wieder zu uns selbst und unseren Bedürfnissen zurückführt.
Das erlernte Nichtstun – Meditiation
Ertragen können, dass nichts ist, die Gedanken abschalten. Ein Ankommen im Hier und Jetzt. Vielen fällt dies schwer. Vor allem Menschen, die von ständiger Betriebsamkeit, Umtriebigkeit und Hektik umgegeben sind. Immer wieder beschreiben diese Menschen, dass sie den Moment der Leere, das „scheinbare“ Nichtstun einer Meditation als quälend empfinden.
Aber wir können lernen, still zu werden und uns nach Innen zu kehren. Meditationstechniken sind erlernbar und fördern nachweislich Kreativität. Wer regelmäßig meditiert, dessen Gehirnstrukturen ändern sich und es entstehen neue Verknüpfungen zwischen verschiedenen Hirnarealen. Nicht nur in Stresssituationen reagiert man gelassener und umsichtiger, sondern es eröffnen sich auch neue Ideen und kreative Potentiale.