Psych In Bloom 2017 – © Lisa-Marie Stricker

Ein Abend im Märchenwald

Was gibt es an einem Samstagabend zu tun, wenn der Himmel grau ist und die Straßen leer, wenn ich gerade am Stuttgarter Hauptbahnhof angekommen bin und mich durch eine menschliche Wand gekämpft habe, die aus Dirndln und Lederhosen bestand, und die Einzigen, die man abseits des Wasens trifft, schwankende Heimkehrer sind?

Wir sind kurz vor der Dämmerung, der wolkige Himmel taucht die grauen Häuser Esslingens in ein schwaches bläuliches Licht. Nur am Eingang des „Komma“ hält eine riesenhafte Frau den Mond in den Händen. Ihr Kleid leuchtet Türkis vor dem verwitterten Gemäuer der alten Tuchfabrik. Neben ihr steht in großen tanzenden Buchstaben „Psych in Bloom“. Ich bin wohl richtig, denn sie ruft: Komm, tritt ein! Vergiss all das Graue und die Stille! Heiße das Leben willkommen!“

Das Tor mit der Hexe

Ich sehe mich um. Überall herrscht samstagabendliche Stille. Nur aus der Ferne vernimmt man den Nachhall des Feierkampfes vom Cannstatter Wasen. Hier gibt es sonst nichts was locken würde. Also durchschreite ich das glitzernde Tor. Rechts braust an mir das Wasser des Wehrneckarkanals über mehrere Stufen, breite aber flache Wasserfälle, in denen sich zarte Farben spiegeln. Es ist noch zu hell, erst jetzt sehe ich, dass die Farben von den Bäumen am Ufer stammen – blau, grün, rot und violett lassen die Zweige dunkler und geheimnisvoll erscheinen. Ein riesiger Baum am anderen Ufer hat frühzeitig sein Herbstkleid angelegt.

Ein getigerter Pfeil weist mich durch weiteres Tor mit freundlichen Wächtern. Dahinter erstreckt sich eine andere Welt – ein zweiter Mond leuchtet orange durch die knorrigen Äste. Gegenüber sprüht ein Künstler das letzte Licht des Tages um ein riesiges Bild zu vollenden, Rauchschwaden und ein abgetrenntes, maskenhaftes Gesicht. Im Hintergrund rattern die Zahnräder einer alten Wassermühle. Immer, wenn Stille einzubrechen droht, rauscht des Hintergrund – Blätter, Wasser, Räder und die vielen Grüppchen der Gäste, die sich im Hof versammelt haben, lachend, rauchend, diskutierend.

Musik im Nebel

Neben dem Bild ein Eingang, dahinter erblühen auf schwarz-gelbem Grund bunte Plakate. Die kleinen bunten Fenster öffnen den Blick auf eine grelle und doch verträumte Jugendstil-Welt. Hinter mir sitzen im Halbdunkel stille Gestalten, sie hören einer Lesung zu. Es ist so voll, dass ich kaum Platz in der Tür finde, der Vorleser mit dem Rücken zu mir. Ganz im Hintergrund, durch eine geöffnete Tür, erkenne ich das schwarz-gelbe Muster wieder, und aus der Ferne höre ich Gitarren.

Ich verlasse den Raum und kehre wieder zurück in den mittlerweile dunklen Hof. Der Künstler hat seine Arbeit beendet, sie ist jetzt hell erleuchtet von Bänken umgeben. Unter dem Blätterdach tanzen bunte Glühwürmchen. Sie breiten sich über die Mauern aus und flirren am Schornstein dem Himmel entgegen.

Hinter dem Vordach führt ein enger, abermals getigerter Korridor nach hinten, vorbei an Tischen, beladen mit Ware. An den Wänden führen die bunten Plakate zur nächsten Tür. Das Tigerentenmuster zieht wie die Spirale einer optischen Täuschung den Raum in die Länge, die Musik saugt mich durch die Röhre, bis ich durch die Tür stoße und … wieder im Wald stehe.

Dieser Wald ist noch dunkler als der draußen. An beiden Seiten ragen kahle Äste die Wände hoch. Mal sind sie violett, mal blau, als würden Nebelschwaden durch den großen Saal wabern. Auf der Bühne jaulen Gitarren wie Wölfe in der Nacht, unten schwingt eine menschliche Welle im Rhythmus. Manche haben leuchtend orangene Brillen auf der Nase und stolpern gelegentlich, als die Scheinwerfer kreisende Regenbogen auf die Bühne zaubern.

In der Ecke werden Getränke ausgeschenkt und ich sehe eine seltsam dekorative Bierflasche. Mittels Zeichensprache kann ich mich soweit verständlich machen, dass ich eine der letzten Flaschen des begehrten Nektars ergattere. Es schmeckt aromatisch und leicht parfümiert, so verwirrend, als würde man neben einer eleganten Dame Bier trinken. Ein Blick durch eine der orangenen Brillen lässt die Sinne endgültig Walzer tanzen.

Die Wände sind zarte Gewebe aus kristallenen Ästen, die wogende Menschenmenge verschwimmt zu buntem Nebel und über allem tanzen rotierende Sterne. Eine Weile woge ich mit, stoße an meine Nachbarn. Gleichgewicht wird überschätzt. Nach einer Weile muss ich die Brille hochschieben, damit ich mich der Musik widmen kann. Jamhed treibt zum Tanzen an, mal ruhig und verträumt, mal in wildem Reigen, aber immer mit einer Portion Nostalgie.

Jenseits des Regenbogens

Nach dem Tanzen regt sich der Hunger. Im Innenhof gibt es veganen Zwiebelrostbraten im Brötchen, der Andrang ist groß. Der Verdauungsspaziergang führt mich wieder an das Kanalufer, hier unter den leuchtenden Bäumen ist es still. Nur die Bewohner des benachbarten Hotels kommentieren das Geschehen von oben. Das reißt mich jäh aus dem Zauberland, wie auch der kurze Ausflug außerhalb des Geländes. Denn nur ein paar Schritte weiter, im kommunalen Kino, läuft gerade eine Doku über die Band Tangerine Dream. Den Anfang habe ich schon verpasst, außerdem ist hier von der traumhaften Atmosphäre nichts mehr zu spüren.

Auf dem Rückweg stellt sich das seltsame Gefühl, aus der Realität gefallen zu sein, schnell wieder ein. Unter den verhexten Bäumen steht ein schwarzer Lieferwagen, an dem ich mich vorbeischlängeln muss. Plötzlich taucht ein älterer Japaner mit grelltürkisenem Haar aus dem Inneren des Wagens auf und ich halte die Tür offen, damit er geheimnisvolle schwarze Kisten ins Innere schieben kann.

Die Bäume verändern wieder die Farbe, jetzt dominieren gelb und blau. Passend zu dem blinkenden Herz auf der Brust des jungen Mannes, der gerade mit einem Mädchen an der Mauer vorbei schlendert. Er scheint skeptisch und murmelt „Hier stirbt der Bär.“ Es ist nichts von der Feier im Inneren zu merken, dabei stehen wieder viele im Innenhof.

Die Musik, die jetzt im großen Saal gespielt wird ist härter, elektronisch und mit einem hypnotischen Rhythmus, die Menge tanzt. Aus dem kleineren Raum tönt Vogelgezwitscher und Rauschen, aber hier ist es wieder so voll, dass es für mich nur an der Tür reicht. Ich hole mir noch ein Bier, diesmal ein klassisches Helles, und finde mich auf einmal im Inneren einer Tigerente wieder. Die Streifen verlaufen nicht ganz geradlinig, sondern vibrieren. Wenn man sich ein wenig dreht, verliert man schnell die Bodenhaftung. In der Ecke fläzen einige auf Sofas und starren die Wände an. Im Saal ist jetzt wirklich Nacht eingekehrt, nur noch wenige Bäume leuchten hellblau an den Seiten.

Regentanz

Der lange gestreifte Korridor ist jetzt ebenfalls voll, vor dem Eingang drängen sich die Raucher. Ich stelle mich dazu und verfolge den Tanz der Glühwürmchen auf Dächern und Blättern. Ich stehe neben dem Blutmond vor einer orange beschienenen Mauer, als ich den ersten Tropfen spüre. Zuerst denke ich, es ist nur ein Spritzer, der von der Mühle herüber geweht wurde, doch dann werden es mehr und mehr Tropfen und ich brauche die Brille überhaupt nicht mehr, damit sich die Glühwürmchen in tausende winzige Regenbogen verwandeln.

Nicht lange, da beginnt schon die nächste Band zu spielen, jetzt drängen wirklich alle nach innen. Im Korridor sitzt der Japaner mit den blauen Haaren in einem Glitzerkleid an der Theke. Er ist wohl Mitglied der letzten Band, die in der Nacht spielen soll. Gerade stehen Mouth auf der Bühne, aber weil ich bald von vielen Riesen umgeben bin, kann ich die Musik nur hören und ein wenig das Kreisen der Scheinwerfer verfolgen. Nach einer Weile umgeben mich duftende Wolken. Sie schweben mal von links, mal von rechts, folgen den Tanzbewegungen der Riesen. Die von der Brille verwischten Konturen der Tänzer und die bunten Sterne lassen mich die Schwelle zum Traum überschreiten.

Als ich dann schließlich wieder den Saal verlasse und in den Hof gehe, ist dieser verwaist und tropfend. Die Grenze zum Kanal ist kaum zu erkennen, immer wieder fallen durch die Feuchtigkeit Teile der Beleuchtung aus. Die Dunkelheit stört aber nicht. Da offenbar im Hintergrund fleißige Zauberwesen schuften, bleiben die Ausfälle immer nur von kurzer Dauer und wirken fast wie ein Teil der Umgebung. Bevor ich gehe, bleibe ich noch eine Weile im Eingang stehen und beobachte die Gäste. Sehr Junge und sehr Alte, mit kurzen und langen Haaren, ganz in schwarz oder in allen Farben des Regenbogens, sie alle kamen hierher, um an diesem Abend eine andere Welt zu betreten, eine magische, die Sinne verwirrende Welt.

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