Der Fortschritt, der uns unsere sauberen, hellen, gemütlichen Städte beschert hat, ist ein Segen. Menschen leben länger, besser und gesünder als je zuvor. Aber der Fortschritt ist eine Büchse der Pandora, aus der Müll in den Meeren, Feinstaub, Überbevölkerung und Atompilze entweichen. Und Schlaflosigkeit.
Helle Straßen für die Bürger!
Alles begann Anfang Mai, als die Straße aufgerissen wurde. Herr Wagner musste vorsichtig um die kleinen Steinhaufen herumgehen, die entlang des Fußweges aufgeschichtet waren. Er beschwerte sich weder über die dicke Staubschicht auf seinen Möbeln, noch über den ohrenbetäubenden Lärm, der durch die Presslufthämmer der Bauarbeiter verursacht wurde. Herr Wagner wusste, dass das alles nötig war, damit der Fortschritt Einzug in sein bislang vernachlässigtes Viertel halten konnte.
Denn Herr Wagner war uneingeschränkt für den Fortschritt. Er wusste, dass die regelmäßige Erneuerung der Leitungen unter der Straße nötig war, damit die Versorgung des Viertels mit Gas, Strom und elektronischer Kommunikation gewährleistet war. Er wusste, dass von Zeit zu Zeit neue Straßenbeläge, neue Mülleimer, neue Parkbänke und auch eine neue Straßenbeleuchtung nötig sind, um stets auf einem behaglichen Niveau bleiben zu können, was Sauberkeit, Sicherheit und Ästhetik angeht.
Binnen zwei Wochen hielt der Fortschritt in Form eines rauen, hellen Straßenbelags, mehrerer Mülleimer und eines Buswartehäuschens aus gebürstetem Edelstahl und schöner, schlanker, hoher Straßenlaternen, deren geschwungene Säulen über die Straße ragten und Häuser, Bäume und Autos in taghelles Licht tauchten.
Herr Wagner begrüßte die verbesserte Beleuchtung ganz besonders. Wenn er frühmorgens oder spätabends Peppi in die winzige Grünanlage am Ende der Straße führte, hatte er sich oft unsicher gefühlt, ängstlich auf jeden knackenden Ast und jedes zaghafte Knurren seines Hundes gelauscht. Im Schein der alten Lampen hatte man kaum jemanden erkennen können, auch für den Verkehr hielt Herr Wagner die Beleuchtung für unzureichend. Nicht auszudenken, wenn jemand im trüben Licht seinen kleinen Schatz beim Überqueren der Straße übersehen würde. Darum hatte er auch letztes Jahr eine Petition der Bewohner unterschrieben, in der um eine verbesserte Straßenbeleuchtung gebeten wurde.
Unruhige Nächte
Am Tag, als die Bauarbeiten vorbei waren und die neue Beleuchtung zum ersten Mal eingeschaltet wurde, ließ sich Herr Wagner beim Gassigehen mit Peppi besonders viel Zeit. Er bewunderte den Schwung der Laternen, genoss die nun hervorragend ausgeleuchteten sanften Kurven der Straße und das neue Gefühl der Sicherheit. In den Bäumen zwitscherten die Vögel und Herr Wagner schlenderte durch die laue Frühsommerbrise, gänzlich zufrieden mit sich und der Welt.
Bis er sich nach Erledigung seines Abendrituals ins Bett begab. Als er das kleine Nachtlicht an seinem Bett ausschaltete, erwartete er, wie jede Nacht zuvor, praktisch sofort in einen tiefen Schlaf zu fallen, traumlos und entspannend. Einen Schlaf, den er immer seinem besonders reinen Gewissen zuschrieb. Doch es klappte nicht. Er wälzte sich immer unruhiger zwischen den Laken. Mal war ihm zu heiß unter der Decke, mal froren seine Schultern, mal schauten seine Füße zu weit hervor. Er ging noch einmal ins Badezimmer, trank noch ein Glas Wasser und versuchte es wieder. Kein Erfolg. Selbst Peppi wurde unruhig in seinem Körbchen.
Auch am nächsten Tag gelang es ihm nicht, wie üblich um zehn Uhr einzuschlafen. Er wälzte sich erst hin und her im Bett, bis er irgendwann aufgab und sich vor den Fernseher setzte. Die Sendungen, die mitten in der Naht liefen, waren ausgesucht langweilig, trotzdem schaffte er es wieder erst gegen zwei, ins Bett zu finden und einzuschlafen. So erging es ihm auch einen Tag später, und noch einen, und noch einen… Er schien jetzt unfähig, länger als vier, fünf Stunden in der Nacht zu schlafen. Dabei wachte er auf, als hätte er gerade einen Autounfall überlebt. Aber nur ganz knapp.
Seine Arbeit begann langsam, darunter zu leiden. Schon morgens war er mürrisch. Er knurrte die Sekretärin an, wenn sie ihm Urlaubsanträge zum Unterschreiben brachte. Er fuhr den Praktikanten an, der ihm die Kaffeetasse auf den Tisch stellte. Er wandte sich wortlos vom Chef ab, als dieser eine Erklärung wünschte. Er litt Höllenqualen.
Das sollte nur der Anfang sein
Abends, wenn ihm das Einschlafen nicht gelang, versuchte er sich anderweitig sinnvolle Beschäftigung zu verschaffen. Er sah nach seinen Mails, las Nachrichten oder sah sich alte Filme an. Er kuschelte sich in seinem Pyjama unter die Bettdecke und las auf dem Handy verstohlen im Dunkeln, um Peppi nicht zu wecken. Denn Peppi hatte auch einen viel leichteren Schlaf als früher. Statt in seinem Körbchen schlief er jetzt auf einem dünnen Teppich, den er unter das Bett gezogen hatte. Morgens setzte er dann seine feuchte kalte Schnauze als Wecker ein, so lief Herr Wagner wenigstens nicht Gefahr, zu verschlafen und zu spät zur Arbeit zu kommen.
Lange hielt Herr Wagner die Situation nicht aus. Er suchte einen Arzt auf, einen Spezialisten für Schlaflosigkeit. Er beschrieb seinen Tagesablauf, seine Wohnung, seine Umgebung. Die Diagnose war niederschmetternd.
„Sie haben zu viel Licht.“ „Wie zu viel Licht?“ staunte Herr Wagner. „Ganz einfach.“ antwortete der Arzt. „Sie kommen aus einem beleuchteten Büro in eine beleuchtete Wohnung über eine beleuchtete Straße. Sie mögen helles Licht, auch zu Hause, habe ich recht?“ Herr Wagner nickte. „Na sehen Sie! Und wenn Sie im Bett liegen und nicht schlafen können, schalten Sie einen ebenso hellen Bildschirm an. Aber der menschliche Körper braucht die Dunkelheit. Wir sind tagaktive Tiere, die erst zur Ruhe kommen, wenn die dunkelste Nacht hereinbricht. Wenn wir diesen Rhythmus unterbrechen, durch künstliches Licht, dann bringen wir unseren Hormonhaushalt durcheinander. Melatonin, das Schlafhormon, wird bei Dunkelheit ausgeschüttet und sorgt für tiefen, ruhigen Schlaf. Wenn es vor dem Schlafengehen zu hell ist, bekommen Sie von dem Hormon eine zu geringe Dosis, und Sie können nur schlecht einschlafen. Das blaue Licht von Bildschirmen und manchen LEDs simuliert das Tageslicht übrigens besonders gut. Wenn Sie um Mitternacht noch auf dem Tablet Zeitung lesen, denkt Ihr Körper, es sei früh am Abend und hält Sie wach.“
Herr Wagner stutzte. Für ihn war Licht immer ein Zeichen der Sicherheit, der Zivilisation, des gemütlichen Wohlstands gewesen. Im Dunkeln hatte er Angst. Zwar verzichtete er als Erwachsener auf das kleine Nachtlicht seiner Kindheit, aber er musste zugeben, dass er mit größerer innerer Ruhe zu Bett ging, wenn von irgendwo Helligkeit in sein Schlafzimmer drang und er zumindest noch alle Möbel erkennen konnte. Auch wenn nur Peppi unter dem Bett lag und ganz sicher kein Monster aus dem Schrank kommen würde. Er beschloss, sich zu bessern.
In den folgenden Wochen versuchte Herr Wagner alles, um Schlaf zu finden. Er verzichtete auf das abendliche Fernsehen. Er ließ die Finger von Handy und Computer, musste aber feststellen, dass er sich langweilte. Das Lesen bei Kerzenschein war ihm zu anstrengend, also machte er ausgedehnte Spaziergänge mit Peppi. Zum ersten Mal in seinem Leben suchte er die Dunkelheit. Und fand sie nicht.
Überall in der Stadt waren die Straßen hell erleuchtet, mit modernen, tageslicht hellen Lampen. Alle paar Schritte leuchteten Reklametafeln um die Wette, in den Geschäften war es immer taghell, selbst wenn sie bereits geschlossen waren. In den Parks und Grünanlagen fanden sich nur wenige schattige Stellen, in denen sich Obdachlose mit ihren Schlafsäcken drängten. Herr Wagner stellte erschrocken fest, dass es gar nicht so einfach war, ein dunkles Plätzchen zu finden. Vielleicht war es zu Hause doch besser.
Er ließ den Rollladen herunter, erst nur locker, später ließ er die Lamellen mit voller Kraft gegen die Arretierung donnern. Er schob das Bett vom Fenster weg, immer weiter, bis zur hinteren Zimmerwand. Er tauschte Wohn- und Schlafzimmer und versuchte sogar in der Küche zu schlafen. Es half alles nichts: alle Fenster in seiner Wohnung waren zur Straßenseite gerichtet.
Nur noch schlafen
Es war jetzt bereits Sommer und Herrn Wagners Schlaflosigkeit wirkte sich immer stärker auf seine Arbeit aus. Sein Körper schien Tag und Nacht nicht mehr auseinanderhalten zu können, so dass er immer und überall einschlief. Er schlief, während er den Monatsbericht erstellte, er schlief, als sein Chef die nächsten Entlassungen ankündigte und er schlief immer noch, als er den Kaffee auf die Tastatur goss. Besonders tief schlief er im Vortragsraum, in dessen fensterloser Düsternis er sich von der Melodie der Bilanzen einlullen ließ. Leider schlief er auch während seiner eigenen Präsentation, was ihm umgehend zwei Wochen Zwangsurlaub verschaffte.
Er erkannte die Vorteile und machte sich auf den Weg in den Urlaubsort seiner Kindheit, einem vergessenen Dorf in den Alpen, etliche Kilometer von der Zivilisation entfernt. Bei seiner Ankunft war er begeistert. Das Dorf war nicht gewachsen, die alten Häuser so marode wie eh und je und nur die Hauptstraße gepflastert. Er freute sich schon auf die Nacht. Peppi spürte die gute Stimmung und legte seine Schnauze in Herrn Wagners Schoß, als dieser auf der Bank vor dem Haus den Blick über die Gärten im Abendrot schweifen ließ. Sie spürten vollendeten Frieden, bis … ja, bis die Straßenbeleuchtung ansprang. Das Haus hatte die riesige, moderne Straßenlaterne verdeckt, die den Kiesweg bis hinunter zur Hauptstraße zum Höhepunkt eines Westernklassikers werden ließ.
Herr Wagner packte sofort seinen Koffer. Er ging zu Fuß zur Hauptstraße und verließ schnellstens das Dorf, er wollte nichts mehr als endlich Ruhe finden. Doch selbst hinter dem nächsten Berg konnte er den riesigen Heiligenschein erkennen, der sich um das Dorf gebildet hatte. Und in den nächsten Tälern erkannte er weitere Lichtkuppeln, eine jede um ein weiteres Dorf, in dem sich die Menschen schlaflos wälzten. Herr Wagner verzweifelte.
Nach zwei Tagen zurück zu Hause blickte er nur noch voller Hass auf die Laterne vor seinem Haus. Nicht nur ihn hatte sie auf dem Gewissen, in und um ihren Schirm schwebten tausende Insekten. In diese riesenhafte Pusteblume stießen von Zeit zu Zeit Vögel wie Blitze und griffen sich die reiche Beute. Manchmal waren sogar Fledermäuse zu sehen. Herr Wagner griff jetzt zu Schlaftabletten.
Stiller Tag, heiliger Tag
Als das Jahr voranschritt, wurde es nur schlimmer. In den Wochen vor Weihnachten zeigte sich der Fluch der LEDs. Nicht nur die Stadtmitte wurde zum Sternenmeer. Herrn Wagners Nachbarn tobten sich in billiger Weihnachtsbeleuchtung aus, jedes Haus, jedes Fenster blinkte und blitzte in einer anderen Farbe, und manchmal in allen gleichzeitig. Herr Wagner entwickelte eine Migräne.
Die Bäume in den Vorgärten trugen jetzt leuchtende Früchte und Eichhörnchen und Vögel flohen in Scharen in den nächsten Park. Dort hatte die Stadt leider beschlossen sich selbst und ihre Generalsanierung zu feiern, und zwar mit der Installation eines Lichtkünstlers. Zu sphärischen Klängen schwebten leuchtende Sphären zwischen den Ästen der Bäume und vertrieben sämtliche Schatten. Die Tiere flüchteten in den Untergrund. Herr Wagner wanderte lieber nachts auf den Feldern und ließ sich vom mitternächtlichen Schein der reflektierten Stadtbeleuchtung bräunen.
Dann passierte der Unfall. Herr Wagner war so von dem Lichtermeer an einer Kreuzung abgelenkt, dass er die Lichter eines heranrasenden Autos übersah und auch von diesem übersehen wurde. Sein Steißbein und sein Stolz wurden verletzt. Man erklärte ihm, dass man die betreffende Kreuzung bald sicherer für Fußgänger machen wolle, indem man zusätzlich zu den Ampeln auch Leuchtsignale in den Zebrastreifen einbauen wolle. Für Handynutzer.
Herr Wagner war längst kein Handynutzer mehr. Die Schlaftabletten hatten ihn reizbar werden lassen, er mied jetzt jeden Kontakt zu Menschen. An Petitionen dachte er nicht mehr, Peppi war nun sein einziger Freund. Er hatte den Kampf satt und beschloss zu fliehen. Er griff zum Atlas.
Einige Monate später saß Herr Wagner auf einer grob behauenen Holzbank mitten in der kanadischen Wildnis und sah Peppi bei der Jagd nach Schmetterlingen zu. Die Sonne hatte sich bereits hinter den Wipfeln der Bäume schlafen gelegt, ihre letzten Strahlen noch als schwacher blauer Schein im Westen zu erahnen. Herr Wagner lehnte sich gegen die Wand der Blockhütte und blickte aus der Geborgenheit des dunklen Waldes empor in den Himmel, der nun im Schein tausender Sonnen strahlte. Ein winziger Mensch auf einer winzigen Welt inmitten so vieler anderer Welten.
Herr Wagner schlief jetzt wie ein Baby. Er ging zu Bett mit dem Sonnenuntergang und stand bei Sonnenaufgang auf, war ausgeglichen, freundlich und glücklich. Bis … ja, bis er die Arbeiter sah, die an der nächsten Straße mit Hilfe eines Krans und sonstiger schwerer Geräte eine wahrhaft monströse Straßenlaterne aufstellten. Zur Erhöhung der Sicherheit.