30 Jahre sind es jetzt her. 30 Jahre nach dem Mauerfall. Seit 30 Jahren sind wir wieder ein geeintes Deutschland. Wir sind jetzt ein Volk, oder? Sind wir wirklich geeint oder gibt es doch noch große Unterschiede? Unsere Autorin Saskia Dreßler versucht eine persönliche Bilanz zu ziehen.
Was hat der Mauerfall mit mir zu tun? Schließlich war ich noch nicht einmal geboren als die Mauer fiel. Natürlich, es ist ein Teil deutscher Geschichte, aber für mich gibt es noch wichtigere Gründe als diese allgemeinen. Ich bin zwar selbst in Bayern, besser gesagt in Franken, geboren, aber meine Eltern stammen beide aus Sachsen-Anhalt. Sie haben also die DDR, den Mauerfall und die Wende selbst miterlebt – und dieses Miterleben durch Erzählungen und ihre Lebensweise an mich weitergegeben. Ich fühle mich beinahe so, als wäre ich persönlich dabei gewesen als meine Mutter am 11.11.1989 das erste Mal in „den Westen“ fuhr und dann ihre eigene Mutter auf der anderen Straßenseite traf, die schon vorher aufgebrochen war. Die erste Person im Westen die eigene Mutter. Mit diesen und anderen Anekdoten bin ich aufgewachsen. Sie sind genauso selbstverständlich für mich, wie Pittiplatsch oder der Sandmann. Ich bin nicht mit Ottfried Preußler aufwachsen – mein Lieblingsschriftsteller war ein Russe. So oder so könnte ich die Aufzählung noch lange weiterführen, denn auch in meinen Ansichten erkenne ich oftmals deutlichere Unterschiede als bei anderen. Beispielsweise bin ich politisch von Anfang an mehr links als andere in meinem Alter.
Was mir aber vielleicht am meisten im Gedächtnis bleibt, sind meine Ferien bei meinen Großeltern. Ich habe es vielleicht nicht verstanden, aber wenn ich heute nach Sachsen-Anhalt fahre, dann habe ich ein anderes Gefühl als wenn ich zu Hause bin. Auch die Kommentare, die ich schon oft von meinen Mitschülern anhören musste, werden mir auch im Gedächtnis bleiben. Wie kann ich als „Ossi“ bezeichnet werden, wenn ich dort nicht mal geboren wurde? Und warum müssen wir diesen Unterschied überhaupt machen? Aber vielleicht ist die wichtigste Frage auch: Gibt es nach 30 Jahren überhaupt noch Unterschiede zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland? Dieser Frage werde ich hier auf den Grund gehen:
Die Wirtschaft
Die Wirtschaft im Osten Deutschlands ist weniger produktiv als im Westen, wie das Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle herausgefunden hat. Die Produktivität lag im Jahr 2017 in den neuen Ländern einschließlich Berlin bei durchschnittlich 82 Prozent des Westniveaus. Kein ostdeutsches Flächenland reicht bislang an das westdeutsche Schlusslicht, das Saarland, heran. Neu ist das zwar nicht. Anders als bislang angenommen liegt das nach Ansicht der IWH-Forscher aber nicht daran, dass 93 Prozent der Großkonzerne immer noch im Westen angesiedelt sind, sondern an einer verfehlten Subventionspolitik. Über viele Jahre seien Milliarden geflossen, doch diese Förderung habe auch Schaden angerichtet und Unternehmen dazu verleitet, nicht benötigte Arbeitsplätze beizubehalten. Viele Industriearbeitsplätze seien verloren gegangen und neue Jobs vor allem im Dienstleistungssektor entstanden, diese wiederum vor allem in den Städten. Es gelte, dieser Entwicklung auch in Ostdeutschland Rechnung zu tragen. Heute arbeiten bereits drei Viertel der West-Beschäftigten in Städten, im Osten ist es nur die Hälfte.
Mit der stagnierenden Wirtschaft gehen auch unterschiedliche Gehälter einher: Denn erst näherten sich die Ostlöhne in rasantem Tempo denen des Westens an. Im Jahr 1991 bekam ein Arbeitnehmer in den neuen Ländern gerade einmal die Hälfte dessen, was ein Westdeutscher erhielt. Nur ein Jahr später hatten Ostgehälter schon 61,1 Prozent des West-Niveaus erreicht. 1996 dann stolze 74 Prozent. Doch seitdem geht es nur in Tippelschrittchen voran. Stand heute, mehr als 20 Jahre später: 81,4 Prozent. Ein Vollbeschäftigter im Osten hat monatlich im Schnitt 1.000 Euro brutto weniger als einer aus dem Westen, verkündete im März das Statistische Bundesamt.
Der Rechtspopulismus
Das ist natürlich das Thema, was die Westdeutschen mit Ostdeutschland verbinden. Im ganzen Ostdeutschland gäbe es nur Nazis… Da müsse man wohl wieder die Mauer bauen… Diese und andere Aussagen kennt man ja zu genug. Und ja, es stimmt: es gibt viele Rechtspopulisten in Ostdeutschland. (Nie habe ich so viele AfD- und NPD-Wahlplakate gesehen wie in Ostdeutschland.) Aber nein, die Ostdeutschen wählen nicht nur rechts. Es kommt auf das Bundesland an. So werden beispielsweise in Brandenburg die Grünen als stärkste Partei gewählt. Und auch viele der AfD-Spitzenpolitiker kommen aus den „alten Bundesländern“ und nicht aus den neuen. Die Gründe, warum trotzdem Parteien, wie die AfD, so viel Macht im Osten haben, sind vielleicht Politikvertrossenheit oder das Gefühl der Ungerechtigkeit – wie berechtigt dies ist, sollte jedoch an andrer Stelle diskutiert werden. Außerdem sollte man nicht vergessen, dass es auch genug Menschen gibt, die sich beispielsweise für Flüchtlinge einsetzen – auch wenn das vielleicht oft nicht so medial verarbeitet wird.
Und sonst so
Sonst gibt es im Osten eine starke Überalterung, da viele junge Menschen in den Westen ziehen – trotzdem werden Städte, wie Leipzig bei Studierenden immer beliebter.
Auch haben einige der Ostdeutschen, wie mir scheint, ein ganz anderes Lebensgefühl. Es ist wieder „modern“ in Erinnerungen zu schwelgen, sogenannte Ostalgie. Dort leben Erinnerungen an früher auf. An die Musik, die Lebensmittel und die alte Lebensart werden wieder aufgeweckt. Dies kann gut und schlecht sein. Es ist nett, wenn man sich erinnern kann, aber man sollte den Blick für die Wirklichkeit nicht verlieren und sich auch mit aktuellen Problemen auseinandersetzen – dies sehe ich bei einigen Osttalgigiern nicht.
Zuletzt fällt mir immer wieder auf, dass die Lebenseinstellung in Ostdeutschland eine andere ist. Sie schwankt zwischen Stagnation und Depression, aber auch andere Werte haben sich erhalten. So kommen mir oft die Menschen ein bisschen herzlicher und gastfreundlicher vor, denn es wird versucht dem anderem alles recht zu machen, damit er sich wohlfühlt – dies habe ich beispielsweise bei den Schwaben noch nicht so erlebt. Auch die Einstellung zur Frau und deren Möglichkeit auf dem Arbeitsmarkt sind anders. Mir scheint es, dass es dort nicht so schlimm ist, als Frau schon früh nach der Geburt wieder arbeiten zu gehen. Währenddessen weiß ich, dass meine Mutter oft schräg angesehen wurde, weil sie meine Geschwister mit einem Jahr in die Kindergrippe gegeben hat, um arbeiten gehen zu können.
Eine Lösung?
Nun… Das ist vielleicht die schwerste Frage, denn es gibt keine einheitliche Lösung. Natürlich ist es wichtig zu versuchen den Osten Deutschland für Menschen und Unternehmen attraktiver zu machen. Das bedeutet, dass man hier nochmals Geld investieren müsste. Auch sollte in die Bildung investiert werden, denn nur sie kann verhindern, dass Rechtspopulisten mehr an Bedeutung gewinnen. Aber der wichtigste Punkt für mich bleibt, dass wir ins Gespräch kommen sollten – und zwar beide Seiten. Sowohl Ostdeutsche wie Westdeutsche sollten ihre Vorurteile einmal beiseitelegen und miteinander reden. Sollten sich überlegen, was ihre Gemeinsamkeiten sind und nicht die Unterschiede betonen, denn nur so können wir zusammenwachsen – und es wird sicher noch eine Weile dauern bis wir vollkommen wieder geeinigt sind. Ich bin mir sicher, dass wir zu einem Deutschland werden können und ich hoffe, dass dies nicht noch weitere 30 Jahre dauern wird.
Ein kleiner Nachtrag: In diesem Beitrag wird verallgemeinert, aber natürlich ist nicht damit gemeint, dass jeder Ostdeutsche und jeder Westdeutsche so handelt. Es soll versucht werden Grundprinzipien aufzuzeigen, ohne dass sich jemand in seiner Persönlichkeit verletzt fühlt.