Das Kind schläft. Es schläft am Morgen, wenn der Wecker klingelt, und es schläft am Abend, mit dem Laptop im Schoß. Es schläft am Nachmittag, wenn ich es an die Schlagzeugstunde per Skype erinnere, und es schläft am Vormittag, als die Schule anruft, weil es die ersten zwei Schulstunden verpasst hat. Das Kind schläft auch zu Abendessenszeit und manchmal sogar in den Pausen zwischen den Schulstunden.
Es ist nicht das einzige Kind, das schläft. Die Schulsekretärin bestätigt am Telefon, dass seit Beginn des Distanzunterrichtes viele Lehrer darüber klagen, dass die Kinder in den Stunden reihenweise vor dem Bildschirm einschlafen. Sie gehen davon aus, dass die Kinder zu spät ins Bett gehen und ihren Tagesrhythmus verloren haben.
Tagträume
Eine Studie des Münchner Ifo-Institutes[1], bei der wir letztes Jahr im Juni mitmachten, zeigte bei Schulkindern einen deutlichen Rückgang der mit schulischen Aufgaben verbrachten Zeit – im Schnitt von 7,4 auf 3,6 Stunden. Die meiste Zeit verbrachten die gelangweilten Kinder stattdessen mit passiven Tätigkeiten wie Fernsehen und Computerspielen. Zugegeben, dieses Kind auch. Nach wenigen Wochen war der Schlaf unruhig, das Kind war immer schlecht gelaunt und hatte keine Lust mehr, auch nur die geringste Aktivität zu entfalten.
Diese Schulschließungen sind jetzt ein Dreivierteljahr her. Bereits vor der Öffnung der Schulen wurden wir als Eltern darauf hingewiesen, dass das unterdessen eingeführte System des Online-Unterrichtes über die Plattform MS-Teams auch nach der Öffnung und im neuen Schuljahr weitergeführt werden würde. Niemand erwartete, dass das Schuljahr 2020/21 ohne Schließungen ablaufen würde, und ebenso wie in anderen Bereichen sollten Konzepte vorbereitet, technische Ausrüstung angeschafft und geplant werden, wie man sich auf unvorhersehbare Entwicklungen in der Corona-Krise vorbereiten könnte.
Jedenfalls wurde uns das so vom Bayrischen Kultusministerium mitgeteilt. Es war, was in allen Medien vor Ende des letzten Schuljahres kursierte. Es schien uns möglich, ein landes- oder noch besser bundesweites Konzept auf die Beine zu stellen, mit dem Kinder auch ohne physische Anwesenheit beschult werden könnten. Wir leben schließlich im Land der Dichter und Denker, der Erfinder und Exporteure, oder?
Der Boden der Realität
Irgendwie hatten wir uns unter dem Fernunterricht, der unweigerlich folgen würde, so etwas vorgestellt, wie es in Neuseeland und abgelegenen Gegenden Kanadas und Australiens funktioniert: Eine Kombination aus Videokonferenzen und Aufgaben im Selbststudium, vielleicht auch eine stärkere Vernetzung unter den Fächern. Mehr Projekte und eine Einbeziehung des häuslichen Alltages, damit die Kinder auch ohne Anwesenheit in der Schule genug Anschauungsmaterial hätten. Eine verstärkte Nutzung von im Internet ohnehin vorhandenen Angeboten, wie Videos und Lernplattformen.
Schließlich ist die Erreichbarkeit von Informationen unvorstellbar erleichtert, seit sie über das Internet abrufbar sind. Wenn wir uns an unsere Schulzeit erinnern, als sämtliche Recherche noch in Bibliotheken erfolgen musste, ist es ein Quantensprung.
Und tatsächlich – viele aktive und engagierte Lehrerinnen und Lehrer stellten bereits im Frühjahr 2020 neue Konzepte auf die Beine, vernetzten sich über diverse Plattformen und teilten didaktische Methoden für den Online-Unterricht. Was fehlte, war klar: Endgeräte für Lehrer und Schüler, Internetzugang mit ordentlichen Datenraten für alle und klare Vorgaben für die Umsetzung durch die Kultusministerien. Dazu am besten noch eine engere Betreuung von Familien mit bildungsfernem Hintergrund und Kindern mit besonderen Bedürfnissen.
Schwenk zurück in die Gegenwart. Ja, wir haben einen Online-Unterricht, der Konferenzen und Aufgaben verbindet. Wir haben Endgeräte und Internet und eine enge Betreuung der Kinder mit Lernschwierigkeiten. Allerdings…
Der Online-Unterricht wird so nur von einzelnen Schulen angeboten. Es herrscht totales Plattform-Chaos: Allein in Bayern verwenden einige Schulen die landeseigene Plattform Mebis, andere, weil Mebis instabil ist und gerne aus Überlastung abstürzt, MS Teams. Manche wiederum verzichten ganz auf Konferenzen und arbeiten weiter mit Arbeitsblättern, die teilweise täglich wieder abgegeben werden müssen – damit ist der Sportunterricht gleich inklusive.
Um Endgeräte mussten sich Eltern zunächst selbst bemühen. Nicht wenige verpassten den Moment vor der Schließung des Einzelhandels und kannten sich zu wenig aus, um online Geräte zu bestellen. Natürlich waren die günstigeren Geräte spätestens kurz nach Bekanntgabe des Fernunterrichtes für Grundschulen ausverkauft. Am schlimmsten dran waren Familien mit mehreren Schulkindern – Voraussetzung für einen stress- und störungsarmen Online-Unterricht ist eigentlich ein Endgerät pro Kind (und damit ist kein Handy gemeint!), mit Kopfhörern sowie Mikrofon, einer guten Kamera und einem ruhigen Raum. Wer je Familien mit Kindern in Großstädten besucht hat, weiß, dass das für die meisten illusorisch ist.
Irgendwann, aber erst als die Schulen geschlossen wurden, gab es die Ankündigung, dass jedes Kind ein Endgerät gestellt bekommen soll. Vom Kultusministerium? Mitnichten, gestellt wurden die Geräte von der Stadt, und zwar so spät, dass etliche Grundschüler beim Wiedereinstieg in den Wechselunterricht Anfang März immer noch kein Gerät hatten.
Am schlimmsten ist es aber um die engmaschige Betreuung der Kinder bestellt. Diese erfolgt nämlich nicht durch Fachkräfte, sondern durch die Eltern selbst, sofern sie: arbeitslos sind, Hausfrauen, in Kurzarbeit oder im Home-Office. Hier sind ebenfalls am schlimmsten die Familien mit mehreren Kindern betroffen, und verstärkt die Kinder, deren Eltern nicht zu Hause bleiben können und die somit die Notbetreuung besuchen müssen. In der Notbetreuung werden nämlich je nach Ausstattung lediglich die Offline-Aufgaben erledigt, eine Teilnahme an den Videokonferenzen und somit am Unterricht ist nicht möglich.
Warum, warum ist die Banane krumm…
Ein Grund für dieses Chaos ist schnell ausgemacht, denn bei Gesprächen mit Freunden in anderen Bundesländern zeigt sich, es geht allen so. Mal hat man Glück, mal hat man Pech, die Qualität des Unterrichtes ist seit Beginn der Pandemie in erster Linie abhängig vom persönlichen Engagement des Lehrers, in zweiter Linie vom Konzept der Schule (falls es überhaupt eines gibt). Was eine Chance hätte werden können, die überfällige Digitalisierung der Schulen voranzutreiben, hat nur noch mehr Fehler im System offenbart: Verantwortungsdiffusion, Missmanagement und mangelnde Ausstattung. Und Ministerien, die in erster Linie an der politischen Zukunft der Minister interessiert scheinen.
Wir haben es eigentlich sogar recht gut. Die Schule dieses Kindes schaltete schnell und beschaffte bereits im Frühsommer über den Elternbeirat genug Endgeräte, um alle Kinder zu versorgen. Der Bedarf und die Versorgung mit Internetanschlüssen wurden gleich im April durch eine Umfrage erhoben. Die Schule stellte noch vor Beginn des neuen Schuljahres ein flexibles Konzept auf die Beine, das zugleich ein Einstieg in eine zukünftige Digitalisierung sein sollte.
Wohlgemerkt das alles ohne Unterstützung von oben, denn das bayrische Kultusministerium überließ die Ausgestaltung des Digital- und Wechselunterrichtes von Beginn an den Schulen. Zwar gibt es einen Rahmenplan, in dem von Verbindlichkeit und Verlässlichkeit für Schüler*innen, Lehrer*innen und Eltern gefaselt wird, aber „Die unterschiedlichen Voraussetzungen vor Ort – bspw. in Technik oder Ausstattung bzw. in der jeweiligen Lerngruppe oder bei einzelnen Schülerinnen und Schülern – sollen und müssen jedoch weiterhin Berücksichtigung finden”. Das wurde interpretiert als: wir unternehmen zunächst nichts, mal schauen, wie die Schulen klarkommen.
Nach der letzten Verspätung des Kindes meldet sich die Klassenlehrerin mit der verzweifelt klingenden Bitte um ein Telefonat, denn mehreren Lehrern sei aufgefallen, dass das Kind sich immer weiter zurückziehe. Wir werden panisch, denn das Kind verblasst tatsächlich immer mehr. Es verlässt das Haus nicht, ihm wird draußen schwindlig. Es ist immer schlecht gelaunt und empfindlich, manchmal möchte es wie ein Kleinkind in den Arm genommen werden.
Wir beschließen, eine Bestandsaufnahme zu machen. Die Schule hat Unterstützung angeboten für Schüler, die mit dem Online-Unterricht schlecht klarkommen. Sie besteht aus Hilfen für die Strukturierung des Alltages, aus konkreten Zielvereinbarungen mit den Schülern und regelmäßige Kontaktaufnahme. Das Kind wurde kontaktiert, aber wie sich herausstellt, ist das wohl weniger das Problem. Als wir alle Stunden Online-Unterricht und Aufgabe zusammentragen, stellt sich heraus, dass das Kind in der 8. Klasse um die Hälfte mehr Arbeit hat als sein Bruder in der 11. Mehr sogar als wir Erwachsenen, und da ist die Zeit des freien Lernens nicht inbegriffen.
Jeden Tag saß das Kind pünktlich um 7:30 vor seinem Computer. Um 8 beginnt der Online Unterricht, live und oft ohne Pausen mindestens bis um 13:00, gelegentlich länger. Aufgaben gibt es dann oft für noch einmal so lange, zusätzlich Gruppenarbeit. Wenn das Kind tatsächlich alles einhielt und die wenigen Hobbies ebenfalls online betrieb, blieb es bis um 23:00 vor dem Bildschirm. Manchmal mit Klassenkameraden, oft allein. Bis die Aufgaben zu viel wurden, sich anstauten und das Kind einfach … aufgab.
Als wir endlich mit der Lehrerin sprechen, wird klar, warum sie verzweifelt – sie ist in derselben Situation. Auch sie hat zwei Kinder in der Unter- und Mittelstufe, auch sie arbeitet von zu Hause aus. Wir telefonieren an dem Tag, an dem ihr eigenes Kind sagt, dass es nicht mehr kann und aufgibt.
Viele Lehrer verwenden bis heute private Endgeräte, Internet von zu Hause, denn die Schulen sind schlecht bis gar nicht vernetzt. Zugleich versuchen sie ihre eigenen Kinder zu beschulen und nicht unterzugehen. Dass viele Aufgaben von den Lehrern erst kurz vor Mitternacht online gestellt werden, ist systemisch durch die Arbeitsbelastung bedingt. Die Schüler stehen dann morgens vor einem derart großen Berg an Aufgaben, dass sie häufig welche übersehen.
Am Ende
Zur selben Zeit ziehen sechzehn Esel den Karren in sechzehn Richtungen, so dass er sich keinen Millimeter bewegt. Die Verantwortung wird immer weiter nach unten gereicht, und keiner will es gewesen sein.
Es ist nicht mehr, wie in der ifo-Studie, ein zu wenig an Bildung und Schule, es sind überforderte Eltern, Lehrer*innen und Kinder kurz vor dem Burnout – oder mittendrin. Da klingt es wie Hohn, wenn in Bayern die Faschingsferien mit dem Argument gestrichen werden, dass diese fünf Tage zum Aufholen coronabedingter Defizite genutzt werden müssten. Schulen, die wenigstens etwas „luftigeren“ Unterricht in dieser einen Woche machen wollten, wurden unangekündigte Kontrollen und disziplinarische Konsequenzen angedroht. In diesem Klima der Angst legen die meisten noch einen Zahn zu und sind mit dem Stoff oft weiter, als sie es ohne Corona wären.
Den Preis zahlt die Psyche. Bereits im Wechselunterricht vor Weihnachten starteten Schüler an der Schule des Kindes eine Umfrage, mit der sie die psychische Verfassung der Schüler erfassen wollten. Das Ergebnis zeigte schon damals Überforderung. Durch alle Jahrgangsstufen hindurch bewerteten sie ihr Stresslevel als hoch bis sehr hoch, 56 Prozent der Schüler bezeichneten den auf sie lastenden Druck als hoch oder zu hoch.
Die Ergebnisse der Umfrage wurden in einem Brief an den bayerischen Kultusminister Michel Piazolo geschickt. Denselben Michael Piazolo, der zu Beginn der Schulschließungen fast stündlich sich widersprechende Kommuniqués an die Schulen bezüglich des Distanzunterrichtes schickte und so Lehrer, Eltern und Schüler in die Verzweiflung trieb. Die Antwort war ein Auszug aus dem Rahmenplan, mit dem die Verantwortung wieder an die Schule zurückverwiesen wurde und ein kurzer Dank an die Schüler für ihr Engagement.
Wie es weitergehen soll, weiß niemand so genau. Das erste Halbjahr 2020/21 ist zu Ende, die Schulen sollen trotz steigender Inzidenzen bald für alle öffnen. Mit Tests für alle und Impfungen für das Personal. Wer das organisieren wird? Leicht zu beantworten – die Schulen selbst.
Literatur: Ludger Wößmann/Vera Freundl/Elisabeth Grewenig/Philipp Lergetporer/Katharina Werner und Larissa Zierow: Bildung in der Coronakrise – Wie haben die Schulkinder die Zeit der Schulschließungen verbracht, und welche Bildungsmaßnahmen befürworten die Deutschen? ifo Institut, München, 2020 – ifo Schnelldienst, 2020, 73, Nr. 09, 25-39.