Claus und Jule sind Erwachsene mit ADHS und wissen das erst seit kurzem. Bei ADHS denken viele an unerzogene Kinder. Die alternative Hirnstruktur bleibt Betroffenen lebenslang. Hier erzählen sie, wie es sich damit lebt.
Unsere Autorin Silke Ulrich hat sich mit ihnen zusammengesetzt, um herauszufinden, wie ADHS den Alltag der beiden beeinflusst. Welche Wege finden sie, um ihr Leben etwas einfacher zu gestalten.
- In Teil 1 dieser Reihe konntest du erfahren, wie es ihnen grundsätzlich mit ADHS geht.
- Teil 2 äußerten sich Jule und Claus dazu, wie sie die ADHS-Symptome aus dem Bereich Unaufmerksamkeit erleben.
- Hier in Teil 3 werden sie sich zu weiteren ADHS-Symptomen.
- Lies auch Silkes einleitenden Text zum Thema.
In diesem Teil unseres Interviews mit Jule und Claus befragen wir die beiden anhand der Diagnosekriterien für ADHS nach dem DMS-5 zu ihren Symptomen aus dem Bereich Hyperaktivität und Impulsivität. In Teil 2 haben wir erklärt, wie die Diagnose insgesamt funktioniert. Lies ggf. dort noch einmal nach.
Für eine Diagnose von ADHS sind laut DSM-5 mindestens sechs der folgenden Symptome aus dem Bereich Hyperaktivität und Impulsivität nötig:
Disclaimer: Auch wenn das verführerisch sein mag, nutze diesen Text bitte nicht zur Selbst- oder Fremddiagnose. Er dient nur der leicht zugänglichen Information und ist nicht wissenschaftlich exakt. Wenn du dich darin wiederzukennen meinst, mache bitte einen Termin in einer psychiatrischen Praxis für eine professionelle Diagnose.
ADHS-Symptom: mit dem ganzen Körper oder einzelnen Gliedern zappeln
Jule: Also in der Community nennt man das Stimming, weiß nicht ob es ein deutsches Wort dafür gibt, stimulieren vielleicht?
Silke: Also für diese Sachen gibt es selten ein deutsches Wort, man benutzt eigentlich immer die englischen Ausdrücke.
Jule: (spielt mit ihrem Stift) Das wäre eine Art von Stimming. Oder auch am Finger oder Gesicht rumfummeln. Vor allem wenn man sehr nervös ist macht man das gerne. Oder auch wenn man nachdenkt, oder wenn man nicht genug Dopamin bekommt. Wenn es langweilig ist, sieht man das oft. Bei mir ist es oft so muss ich sagen.
Silke: Hast du dabei auch Go-Tos? Also gibt es eine Art Stimming die du am häufigsten macht?
Jule: Also mein schlimmstes Stimming sage ich mal, ist meine Lippen zu beißen. Vor allem wenn ich super viel nachdenke, oder voll im Stress bin bei einer Arbeit die schnell passieren muss. Als Kind habe ich glaube ich meine Fingernägel gebissen, aber das zum Glück nicht mehr.
Normales Stimming würde ich sagen, ist ich kann nicht normal sitzen. Also ich kann nicht ruhig sitzen, ich muss immer mit dem Fuß, oder mit dem Stuhl wackeln, oder meine Position alle zwei Sekunden wechseln.
Claus: Also unablässiges Fußwackeln oder sowas habe ich zum Beispiel auch. Was mir im Nachhinein aufgefallen ist, ist das ich in der Schule mit fünf oder sechs dazu geneigt habe, wenn der Unterricht langweilig wurde, mit der Schere an meinen Fingernägeln rumzuschnippeln. Was natürlich dann immer zu dummen Witzen der Lehrer geführt hat.
Was ich sehr nervig finde ist, seit ich den Bart habe, das rumzupfen (demonstriert an seinem Bart). Das macht mich selber schon wahnsinnig, weil es irgendwann auch anfängt weh zu tun, aber wenn das anfängt kann ich einfach nicht mehr aufhören, das ist fürchterlich.
Jule: Was ich auf jeden Fall gehört habe über dieses Stimming ist, dass es vorteilhaft sein kann es in die richtige Richtung zu fördern, um sich besser zu konzentrieren. Manche haben extra so Fidget Spinner, oder ich nehme einfach meine Haargummis, wenn ich merke, dass ich mich nicht konzentrieren kann in der Vorlesung. Oder versuche mich abzulenken damit ich den Fokus darauf zurücklenken kann, weil ich gerade irgendetwas mit den Händen mache.
Es gibt mittlerweile auch super viele verschiedene Fidgetspinner in verschiedenen Formen und Farben im Internet zu kaufen. Wie eine Art Konrtoller um daran rumzuspielen oder draufzudrücken oder Luftpolsterfolie.
Claus: Kaugummis und Kaubonbons helfen auch gegen dieses Zähne beißen. Anscheinen wirkt auch Kaugummi kauen konzentrationssteigernd, nicht nur bei Menschen mit ADHS. Ich habe meinen Schülern auch immer gezielt erlaubt im Unterricht zu stricken oder so. Das Stricken Beispiel kam auf weil irgendein Schüler das mal gemacht hat. Oder zu Zeichnen, weil das so Sachen sind, die scheinbar die Konzentration steigern können.
Jule: Ja, zeichnen hab ich immer gemacht, also in jeder Stunde habe ich gezeichnet. Irgendwann kam meine Geschichtslehrerin her und meinte ich soll aufpassen und ich meinte, dass ich besser aufpassen kann, wenn ich zeichne. Sie hat mir das nicht geglaubt. Ich dachte mir dann auch nur: “Toll für dich, aber bei mir funktioniert es halt”.
Oder bei meiner Musiklehrerin war es glaube ich das Gleiche, die hat gedacht ich pass nicht auf, dabei konzentriere ich mich wirklich bei der. Sie sollte sich eher Sorgen machen wenn ich nicht zeichne, dann hätte ich nicht aufgepasst.
Claus: Also ich meine das liegt natürlich jetzt daran, dass sie halt einfach schlecht informiert sind. Diese Sketchnote Methode kann da auch ziemlich gut helfen. Ich habe in Vorlesungen meistens halt auch in vollständigen Sätzen mitgeschrieben, aber wenn man das jetzt nicht macht, die Sketch Notes, diese Mischung aus Notizen und Zeichnungen und so weiter das ist auch ganz gut irgendwie.
ADHS-Symptom: Nicht sitzen bleiben wollen (z.B. während Tätigkeiten)
Claus: Ich habe das ganz oft gelesen, dass es das gibt. Nicht sitzen bleiben wollen in Situationen in denen es sozial angemessen ist. Da sieht man schon wieder, dass die Eigenschaft auch in Bezug zu einem sozialen System gesehen wird. Also ich kann mich tatsächlich nur irgendwie in der Grundschule an einen Schüler erinnern, der tatsächlich nicht in der Lage war auf seinem Stuhl sitzen zu bleiben und er immer aufgestanden und rumgelaufen ist. Das hat die Lehrer narrisch gemacht.
Wenn man jetzt mal davon absieht gilt für aufstehen und solche Dinge ähnliches wie für das Fidgeting: Es ist erwiesen, dass Leute die beim Arbeiten häufig laufen und sich dann wieder hinsetzen, kreativere Ergebnisse haben, oder produktiver sind, obwohl sie unterbrechen. Ich glaube es lässt sich ja auch beobachten, dass wenn man zum Beispiel vom Schreibtisch aufsteht und aufs Klo geht, dass man dann auf dem Klo plötzlich die Idee hat, die man die ganze Zeit gesucht hat am Schreibtisch.
Oder dass einem die besten Ideen beim Duschen oder Geschirrspülen kommen. Wo man also mechanisch beschäftigt ist und der Kopf frei laufen kann. Jetzt stundenlang still am Schreibtisch sitzen kann ich schon problemlos wenn`s mich interessiert, aber wenn ich jetzt mich mit sehr komplexen Dingen beschäftige die mich irgendwie auch begeistern, dann gerate ich auch in Unruhe und dann laufe ich auch hin und her, und ich finde das hilft.
Jule: Ich glaube Bewegung hilft immer. Das kennt man ja auch, dass man beim Duschen voll oft Ideen bekommt, weil man auch irgendwie anders stimuliert wird, durch Hitze und Kälte und Wasser. Da kann man kurz abschalten und an nichts denken. Und dadurch dass man frei ist an nichts zu denken, denkt man plötzlich an die wichtigen Sachen.
ADHS-Symptom: Herumklettern währen Tätigkeiten – Bei Erwachsenen kann es auf ein Unruhegefühl beschränkt bleiben
Jule: Ich habe irgendwie das Gefühl wir reden immer über das gleiche gerade
Claus: Das ist ja auch das, die beschreiben sehr ähnliche Eigenschaften. Du muss aber auch sechs Stück davon erfüllen um die Diagnose zu bekommen.
Silke: Bei diesem Punkt geht es auch um innere Unruhe.
Jule: Allgemein? Auch wenn man steht?
Silke Ja, das ist einfach, wenn du eine allgemeine innere Unruhe fühlst.
Jule: Ja, also ich nenne das konstanter Stress, chronischer Stress, auch wenn ich nicht gestresst bin, habe ich trotzdem Stress irgendwie.
Claus: Du meinst so eine Art Stessmotor der keine Ursache hat?
Jule: Ja, also ich würde es beschreiben am Besten wenn alles still ist, dann hört man die Stille zu krass, wisst ihr was ich meine? (Claus nickt) Wenn man es schafft zu meditieren oder so, dann merkt man langsam, dass es eigentlich voll laut ist um einen herum.
Aber wenn ich jetzt gerade nicht meditiere, dann denke ich ja an zu viele Sachen gleichzeitig und dadurch habe ich konstanten Stress, auch wenn ich nur rumliege. Auch wenn ich nicht an alles denke, aber unterbewusst denkt man trotzdem an alles, das ist schon eine Unruhe würde ich sagen.
Claus: Diese sprunghaften Gedanken, die wir vorher im Zusammenhang mit Tätigkeiten beschrieben haben, die einfach überkreuz springende Gedanken sein können, die dann Stress auslösen, obwohl eigentlich gar nichts ist.
Also ich hatte das zum Beispiel immer wenn ich lange Arbeitstage hatte an denen ich mich immer voll konzentrieren musste, dann wenn ich aus der Konzentration rauskam bin ich fürchterlich unruhig geworden, dass es fast unerträglich war und das ist dann natürlich der typische Moment für die Selbstmedikamentierung. Jetzt eine Zigarette, oder das Feierabendbier, das halt irgendwie dann halt die Stimulanz bringt oder sowas.
ADHS-Symptom: Schwierigkeiten bei der Selbstbeschäftigung
Claus: Ich kenne das überhaupt gar nicht. Ich habe so viele Ideen und potentielle Projekte und Sachen die ich machen will, mir wird nie langweilig.
Jule: Meintest du jetzt eher, dass es Schüler oder Kinder sind, die im Unterricht nicht lange konzentrieren können?
Claus: Es ist gemeint, dass selbst Freizeitbeschäftigungen nicht lange betrieben werden können, weil selbst dort dann Unruhe auftritt und das Bedürfnis nach mehr Stimulation auftritt. Hier (im DSM5) ist explizit von Spielen und Freizeitaktivitäten die Rede. Ich meine du wählst ja deine Freizeitaktivitäten entsprechend, also du wirst vielleicht als Freizeitaktivität dann nicht Stricken nehmen sondern meinetwegen halt Computerspiele oder so.
Jule: Also bei mir ist es so, manchmal schaue ich Serien, oder sowas, die ich gern schauen will, aber kann mich irgendwie an dem Tag nicht wirklich drauf konzentrieren und dann habe ich halt keinen Bock auf Serien, dann mach ich etwas anderes, obwohl ich gerne diese Serie schaue. Das ist so meine Freizeitaktivität.
Silke: Ich kenne Leute bei denen ist das dann so, dass sie sich in dem Moment auf nichts konzentrieren können, oder nichts ist stimulierend genug ist, dass es darin endet, dass sie im Endeffekt gar nichts machen.
Claus: Das kenne ich schon auch. Die Frage die meine Psychiaterin dazu gestellt hatte war sowas wie schauen sie oft Filme an. Und dann habe ich gesagt nein, das ist mir meistens zu lang, ich guck mir dann lieber eine Serienepisode mit 45 Minuten Laufzeit an.
Und was mir bei Filmen zum Beispiel auch ganz oft so geht, ist: ich will den Film schon sehen, aber ich halte die Exposition nicht aus, weil dann kommt wieder irgendwie diese 15 Minuten das gleiche dulle Einführen in die Geschichte, was du schon 1000 Mal gesehen hast und ich langweile mich zu Tode und kann den Film nicht gucken.
Jule: Das kann ich auch bestätigen. Im Kino drifte ich sehr viel weg. Aber komischerweise schafft man es dann irgendwie fünf Stunden am Stück Serien anzuschauen.
Claus: Aber das ist halt der Flow, das was ich vorhin gesagt habe mit dem Hyperfokus. Du hast zwar einerseits wahnsinnige Schwierigkeiten eine Aufgabe anzugehen, wie du vorher das beschrieben hast mit dieser exekutiven Störung und die Wahrscheinlichkeit, dass du irgendwie dich schnell davon ablenken lässt, ist groß. Wenn du diesen Punkt aber überwindest und in den Hyperfokus kommst, dann wirst du halt Stunden und Stunden etwas machen ohne dich durch irgendwas ablenken zu lassen.
ADHS-Symptom: Auf dem Sprung sein / Unwohlgefühl in Restaurants oder Besprechungen
Claus: Wenn ich bei fremden Leuten zu Hause bin, dann habe ich irgendwie einen zunehmenden Druck wieder da raus zu gehen, weil diese fremde Umgebung mich unruhig macht. Je länger ich da bin, desto unruhiger macht das mich. Deshalb ist da dieser Impuls von jetzt bin ich zwar gerade erst dort angekommen, aber jetzt muss ich weitergehen, weil das mich unruhig macht.
Jule: Da kann ich auch sagen, dass das viel mit warten zu tun hat. Also warten kann auch super stressig sein. Zum Beispiel, dass man das Problem hat:
Du hast heute zum Beispiel frei, aber du willst etwas für die Uni machen. Du hast schon alles in deinem Kopf geplant, und dann kommt eine Freundin spontan vorbei und sagt: “hey, lass doch um drei Uhr treffen” und dann hat man das Problem dass es zwar erst 9 Uhr morgens ist, aber man kann nichts zwischen 9 und 3 Uhr machen, außer auf diesen Moment zu warten loszugehen, weil man vergisst das ja sonst, oder man denkt sich so ach diese paar Stunden dazwischen habe ich ja nicht genug Zeit um mich jetzt wirklich dran zu setzen und meinen Scheiß zu erledigen.
Das ist dann auch dieses anstrengende Warten und diese Unruhe, dass man dann nichts machen kann außer auf den Moment zu warten, dass Spontane zu machen.
Claus: Ja, das Bewusstsein, was nachher ist, kann alles andere blockieren. Ich weiß nicht, ob es da damit etwas zu tun hat, aber ich habe wahnsinnige Schwierigkeiten mich auf etwas festzulegen, also selbst auf Dinge, die ich gerne machen will. Also ich will mich mit jemand verabreden, ich kann mich nicht darauf festlegen, dass ich das morgen Abend um 5 mache, weil es mich unruhig mich, wenn es dann da festgelegt ist. Es ist viel leichter etwas spontanes zu machen.
ADHS-Symptome: Übermäßiges Reden, Antworten vor dem Ende der Frage / Vollenden von Sätzen anderer, Ungeduld an der Reihe zu sein, andere unterbrechen
Claus: Also ich finde bei Vorträgen kommt mir das schon zugute auch. Also ich habe in der Volkshochschule Vorträge gehalten, die gingen so 135 Minuten und ich nenne das den Redeapparat anwerfen. Ich kann dann diese ganze Zeit reden, ohne mir selbst zuzuhören, weil ich weiß ja worüber ich rede.
Jule: Also mir fällt’s auch sehr leicht lange zu reden, aber nur wenn es über ein persönliches Thema ist, oder wo ich weiß, was ich sagen kann. Wenn es aber so ein 5 Minuten Vortrag ist, oder ein 15 Minuten Vortrag, wo ich auf die Zeit achten muss, dass ich wirklich 15 Minuten einhalte, und dann noch über ein Thema mit Folien, was ich erst vor Kurzem gelernt habe, das fällt mir extrem schwer. Ich weiß nicht, ich muss glaube ich erstmal üben dabei frei zu reden, oder ich schreibe es mir halt als Protokoll auf und lese es vor.
Sonst fällt es mir auch leicht zu reden. Manchmal bin ich aber schon etwas blockiert, da kann ich gar nichts sagen, auch keine normalen Gespräche führen. Das kommt immer voll darauf an was für ein Thema.
Silke: Das hat ja auch wieder etwas mit Stimulation zu tun, wenn einen das Thema nicht interessiert, magst du dann auch nicht drüber reden.
Jule: Ich glaube viele Verwandte von mir kennen mich immer noch als die super stille, schüchterne Julia, und haben mich wahrscheinlich noch nie richtig über ein Thema reden gehört so wie jetzt gerade. Wobei es viel damit zu tun hat, dass diese Themen über die ich da rede halt absolut langweilig für mich sind.
Ich kann da halt nicht mitreden, weil es oft über irgendwelche Familienorganisationssachen geht, oder irgendwas über die Arbeit bei denen und ich habe keine Ahnung was die da machen und ich will’s auch nicht wissen. Dann ist es auch noch oft eine Sprachbarriere, weil ich teilweise russisch reden muss und so Sachen, dann fange ich erst gar nicht an zu reden, oder zuzuhören.