Alle, die schon einmal Hausarrest hatten, wissen, dass irgendwann die Sehnsucht nach der Welt draußen mächtig wird. Anders ging es den Menschen in der ehemaligen DDR auch nicht: Sie waren eingesperrt in ihrem Land, konnten nicht reisen oder umziehen, wohin sie wollten. Aus diesem Grund versuchten einige die Flucht. Um ihre Fesseln abzuwerfen, setzten sie dabei oftmals ihr Leben aufs Spiel.
Wir können uns heute nicht vorstellen, wie es ist, wenn es keine Reisefreiheit gibt. Wir können uns nicht vorstellen, wie es ist, wenn der Beruf vorgeschrieben wird, weil es nur eine bestimmte Auswahl an Berufen pro Region gibt. Wir können es uns nicht vorstellen, wie sich diese Enge anfühlt. Und wir wissen nicht, wie es sich anfühlt, die Fesseln abzuwerfen und versuchen zu fliehen.
Für Menschen, die in der ehemaligen DDR gewohnt haben, waren diese Gefühle jedoch Alltag. Der Grund dafür war, dass es seit 1951 strenge Maßnahmen zur Ausreise aus dem Land gab. Diese stellten das „illegale“ Ausreisen – also eine Ausreise ohne Abmeldung bei der Polizei und der Abgabe des Passes – unter drei Jahre Gefängnishaft. Das DDR-Regime beschloss so hohe Maßnahmen, da es vor dem Mauerbau zu großen Flüchtlingswellen von Ost nach West kam. Viele Bürger*innen wollten die neugegründete DDR verlassen. Um sie aufzuhalten, wurden die harten Ausreisegesetze beschlossen und schließlich die Mauer gebaut, die Deutschland jahrzehnte lang trennen sollte.
Das hielt den Freiheitsdrang der Menschen jedoch nicht auf. Stattdessen versuchten sie auf legalen und illegalen Weg die DDR zu verlassen. Die Fluchtversuche wurden dabei immer ausgefallener – und gefährlicher.
Spektakuläre Fluchtversuche
Einer der bekanntesten Fluchtversuche gelang der Familien Strelzyk und Wetzel am 16. September 1979. Sie flohen von Pößneck (Thüringen) nach Westdeutschland. Dafür benutzten sie einen Heißluftballon. Sowohl Ballon als auch Brenner besorgten sich die Familien selbst. Über Monaten hinweg klauten die Familien einzelne Stofffetze, die zusammengenäht den Ballon ergaben. Insgesamt mussten jedoch drei Ballons genäht werden bis der Fluchtversuch gestartet werden konnte, denn die Ballons wurden von der Polizei immer wieder entdeckt und ein Fluchtversuch am 04. Juli missglückte sogar. In der Nacht vom 15. zum 16. September stiegen die Familien in ihrem Ballon. Sie kauerten zu acht in dem Korb und die gesamte Fahrt dauerte 28 Minuten. Später fand die bayerische Polizei Strelzyk und Wetzel in einem Wald. Ihre Flucht wurde so bekannt, dass sie von Michael Herbig verfilmt wurde.
Neben dieser bekannten Flucht gibt es noch viele andere. Es wurde versucht durch Tunnel, mithilfe von Flugzeugen, in Kofferräumen oder auf dem Wasserweg zu flüchten. Nicht wenige der Versuche schlugen fehl und die festgenommenen Bürger*innen wurden in Haft genommen. Dies geschah beispielsweise mit Peter Gross und Christa Feurich. Der Fluchtversuch des Paares wurde verraten und sie mussten für drei Jahre nach Bautzen II in Haft. In diesem Gefängnis, was heute noch besichtigt werden kann, herrschten strenge Regeln und oftmals wurden auch Foltermethoden, wie durchgehendes Lichtanlassen oder ständiges Klopfen, angewandt, um die Gefangenen zu zermürben.
Gefangen im eigenen Land
Die Flüchtlingszahlen stiegen, nach ihrem Höhepunkt zwischen August und Dezember 1961 mit mehr als 51.000 Flüchtigen, weiter an, bis zum Jahr 1988 mit über 9.000 Flüchtigen.
„Man fühlte sich eben richtig eingeengt. Nicht jede*r von uns durfte Urlaub machen, wo sie*er es wollte“, sagt Carola, ehemalige DDR-Bürgerin. „Wenn man uns ein bisschen mehr Freiheit gewährt hätte – wer weiß, vielleicht wären dann gar nicht so viele geflüchtet?“
Diese Aussage fasst zusammen, was viele ehemalige Bewohner*innen der DDR berichten: Die Sehnsucht aus dem Land zu kommen war groß, denn man wollte genauso reisen, wie alle anderen. Trotzdem wollte nicht jede*r gleich in den Westen ziehen. „Wir mochten unsere Heimat trotzdem. Es ist ja nicht so, dass wir gleich weggehen wollten. Ich wollte bei meiner Familie bleiben, aber das sollte niemand bestimmen, sondern ich selbst wollte das entscheiden“, stellt Carola fest.
Damit befanden sich viele Menschen gefangen zwischen Fernweh, dem Wunsch nach Selbstbestimmung und der Angst die eigene Heimat zu verlieren. Dieses Spannungsfeld bestimmte das tägliche Leben und manifestierte sich auch in der Kunst.
Sehnsucht in der Musik
Besonders die Musik wurde zum Sprachrohr der Menschen. Versteckt, um durch die Zensur zu kommen, transportierten die Lieder den Wunsch nach Freiheit. So singt die Band City ihrem Lied Halb und Halb: „Im halben Land und der zerschnittenen Stadt, halbwegs zufrieden mit dem, was man hat. Halb und halb“ und verarbeitete damit das Gefühl in einem geteilten Land zu leben. In einem weiteren Lied von ihnen beschreiben sie das Leben in Ostberlin, wenn Personen Wand an Wand mit Menschen aus Westberlin lebten. Sie waren ihnen nahe und konnte doch nicht mit ihnen reden oder sie berühren. Es war als würden sie in unterschiedlichen Welten leben.
Die Reisesehnsucht beschreibt die Band Silly mit den Worten „Ich will nur einmal mit den Vögeln zieh´n“. Keimzeit geht noch einen Schritt weiter und nimmt die Hörenden mit nach Feuerland: „Bloß von hier weg, so weit wie möglich. Bis du sagst, es ist Zeit, wir müssen aus Feuerland zurück, nach Hause.“
Aus vielen dieser Lieder spricht die Sehnsucht nach einem anderen Leben und gleichzeitig das Gefühl doch nach Hause zu wollen. „Die Musik hat mir oft geholfen meine Empfindungen auszudrücken und die Sehnsucht in meinem Inneren nachzuvollziehen. Ich glaube, dass dieses Gefühl kann nur jemand verstehen, der dasselbe durchgemacht hat“, sagt Carola.
Damit mag sie Recht haben. Das Gefühl gefesselt zu sein und nur ein Stückchen Freiheit haben zu wollen, lässt sich schwer nachempfinden. Doch, wenn wir einander zuhören, Geschichten über Geflüchtete lesen und sehen oder die Musik der damaligen Zeit hören, können wir ein Bisschen dieser Sehnsucht aufnehmen. Dann kann es sein, dass eine traurig-schöne Sehnsucht von uns Besitz ergreift und wir uns schwebend und gleichzeitig in Fesseln gefangen, wie ein Heißluftballon, fühlen können.