Die Angst, die in uns schlummert: Von Verdrängung und Zukunftsangst

Jeder Mensch hat Angst vor etwas. Ob nun vor Spinnen, engen Räumen oder großen Höhen. Manche haben sogar richtiggehende Phobien vor Dingen, die andere als völlig normal ansehen. Es ist relativ einfach, dieser Art von Furchtsamkeit aus dem Weg zu gehen. Anders sieht es mit den tiefen Ängsten aus, die man im Laufe seines Lebens entwickelt und die sich mit der Zeit auch immer wieder ändern können. Oft erkennt man diese nicht sofort. Wird man mit Situationen konfrontiert, in denen man sich zuvor noch nie befunden hat, manifestieren sich die Ängste und man wird sie so schnell nicht mehr los. Diese tiefgehenden Ängste gibt nicht jeder gerne zu und darüber zu sprechen, fällt auch den meisten schwer. Zugeben, dass man überhaupt eine solche Angst hat, tut auch nicht jeder. Vor allem Männer scheinen kaum etwas darüber Preis geben zu wollen – oder sie leugnen komplett, solche Sorgen zu haben. Fünf meiner Freunde und Bekannten waren jedoch bereit, mir ihre größten Ängste anzuvertrauen.

Die Sache ist die: wenn man es simpel formuliert, teilen sich viele Menschen die gleichen Ängste. Angst vor dem, was die Zukunft bringt, Angst davor, allein dazustehen, wichtige Menschen zu verlieren… Damit können sich viele identifizieren. Das spannende an diesen Ängsten ist jedoch, dass jeder Mensch seine Eigenen ganz individuell beschreibt und andere Schwerpunkte setzt. Und das macht jede Angst wieder zu etwas Persönlichen und Besonderen.

Verlustängste

Nicht immer ist einer Person klar, was genau ihr die größten Sorgen bereitet. Man ist sich vielleicht einer seiner tiefsten Ängste bewusst, aber dann geschieht etwas Unvorhergesehenes und man wird sich bewusst, dass da noch eine weitere war. Julia*, einer 21 Jahre alte Zahnmedizinstudentin, ist das passiert:

„Ich glaube, eine tiefliegende Angst, die ich schon immer habe, ist die Angst, nicht mehr gebraucht zu werden, oder unnötig zu sein. Aber als mein Großvater vor ein paar Monaten ins Krankenhaus musste, überkam mich eine andere sehr große Angst. Die Angst, allein zu sein; und zwar in dem Sinne, dass ich plötzlich die Menschen verliere, die ich liebe und auf die ich mein Leben gebaut habe. Ich kann mir nicht vorstellen, ohne meine Großeltern oder meine Eltern zu sein! Das ist alles so… endlich.“

Sich darüber Gedanken zu machen, fällt vielen schwer, ist der Tod doch etwas, dem niemand aus dem Weg gehen kann. „Es kommt nicht oft vor, dass wir wirklich über sowas nachdenken, wenn wir es normalerweise nicht wahrhaben wollen und versuchen, es zu verdrängen.“, meint auch Julia.

Der Verlust von Familienmitgliedern oder anderen Menschen, die einem sehr am Herzen liegen, ist etwas, womit wir häufig konfrontiert werden. Natürlich nicht immer in der eigenen Familie, aber vielleicht durch Bekannte, oder sogar die Nachrichten. Dass das auch eine ganz andere Art von Verlustängsten hervorrufen kann, weiß auch Mareen, 22, die eine gerade eine Ausbildung im Einzelhandel macht:

„Meine Familie oder mir wichtige Menschen durch einen Unfall zu verlieren, so wie man es manchmal in den Nachrichten hört – eine Familie kommt nicht mehr rechtzeitig aus dem Auto raus, oder so. Der Gedanke macht mir richtig Angst.“

2017 starben in Deutschland über 3.100 Menschen durch Verkehrsunfälle. Zwar ist das die niedrigste Anzahl überhaupt hierzulande, aber es bedeutet trotzdem, dass Familien Angehörige und Eltern ihre Kinder verloren haben. In manchen Fällen kam es sogar noch schlimmer. Hört man im Radio, dass es wieder zu einem schweren Unfall auf der A81 kam und dabei ein Autofahrer umkam, denken viele nicht weiter darüber nach, dass nun irgendwo eine Familie eine Beerdigung organisieren muss. Und das erwartet auch niemand. Manche Menschen kommen aber trotzdem nicht um den schrecklichen Gedanken herum, dass in dem Unfall jemand gestorben ist, den man kannte. Und ist die Vorstellung, dass es auch die Schwester oder den Vater hätte erwischen können.

Unerwartete Todesfälle sind die schlimmsten, denn man kann sich nicht auf sie vorbereiten. Wenn plötzlich etwas geschieht, steht man vor vollendeten Tatsachen und weiß erstmal gar nicht, was man nun machen soll. So etwas ist unberechenbar.

Die Angst vor dem Ungewissen

Als ich eine Freundin nach ihren schlimmsten Ängsten fragte, brauchte sie etwas Zeit, um ihre Sorgen in Worte zu fassen. Ihre Antwort war dann jedoch so ausführlich, dass ich sie auf einem ganz anderen Level neu kennenlernte. So einen tiefen Einblick in ihre Denkweise zu bekommen hat sehr geholfen, ihre Ängste zu verstehen.

„Ich denke, dass es gar nicht so einfach ist, zu benennen, was für Ängste man hat. Diejenigen, die wirklich tief sitzen, bleiben meistens unentdeckt. Trotzdem ist mir in den vergangenen Jahren bewusstgeworden, dass ich mit einer phasenweise immer wiederkehrenden Angst zu kämpfen habe: die Angst vor der Zukunft.“, erzählt Denise*, eine 20jährige Psychologie-Studentin. Die Zukunft bärge Ungewissheit und Unklarheit in sich und egal, wie viel sie auch plane, sie könne nie wissen, was sie schlussendlich wirklich erwarte, erzählt sie. „Dieses Gefühl von Machtlosigkeit gegenüber dem Ungewissen, bereitet mir in gewissen Situationen Magenkrämpfe.“ Woher diese Angst vor dem Ungewissen und die Unsicherheit kommt, kann sie sich nicht erklären, aber angefangen hat sie kurz nach ihrem Schulabschluss: „Wenn man 12 Jahre lang Teil eines geschlossenen Schulsystems ist, in dem stets vorgesehen ist, was als Nächstes passiert, ist es gar nicht so abwegig, dass einem die Ungewissheit dann ein Gefühl des Unbehagens gibt.“

Dazu kämpft Denise noch mit einer Angst die schon irgendwie mit der Zukunftsangst zusammenhängt: „Ich denke, früher oder später wird jeder mal mit der Angst konfrontiert, nicht herausfinden zu können, was einen im Leben wirklich erfüllt. Um das Ganze vielleicht etwas verständlicher zu beschreiben – manchmal habe ich das Gefühl, alle Menschen um mich herum haben klare Ziele vor Augen, sie wissen was sie erreichen wollen, warum sie es erreichen wollen und, was Ihnen ein Gefühl von Erfüllung gibt. Ich hingegen irre wie eine Blinde in der Welt herum, probiere mal hier, probiere mal da, komme aber nicht zu einem Resultat. Das Leben ist ein langer Prozess der Selbstfindung und es ist sicherlich legitim sich dafür Zeit zu nehmen, trotzdem bereitet mir dieses Gefühl der Ungewissheit manchmal ziemlich große Angst.“

Die Angst vor der Angst vor der Panikattacke

Auch Panikattacken sind für Denise nichts Unbekanntes. Sie hatte sie glücklicherweise nur ein paar Mal, trotzdem hat es in ihr tiefe Spuren hinterlassen:
„Was mich bis heute noch plagt ist die Angst davor, eine Panikattacke zu haben, also eigentlich die Angst vor der Angst. Das mag jetzt im ersten Moment ziemlich komisch klingen, und ist für jemanden, der noch nie eine Panikattacke hatte wohl kaum nachvollziehbar. Trotzdem ist dies aber etwas, dass mich nicht selten drei Mal überdenken lässt, ob ich Dinge tun soll, die mir normalerweise Freude bereiten würden. Die Panikattacken hatte ich verteilt über einige Wochen zu Beginn dieses Jahres, woraus dann die Angst davor resultierte, die ich bis jetzt – jedoch in einem kleineren Ausmaß – immer noch habe.

Wer sich ein wenig mit Ängsten beschäftigt hat, weiß, dass sich so schnell ein Teufelskreis bilden kann. Je öfters man etwas vermeidet – z.B. ein Treffen mit Freunden absagt, oder eine Prüfung nicht schreibt – und somit vor der Angst wegrennt, umso schlimmer wird diese. Es hat bei mir ein Weilchen gedauert, bis ich begriffen habe, dass die einzig richtige Lösung die Konfrontation mit der Angst ist. Also hilft es mir, mich gezielt in Situationen zu begeben, die eine Panikattacke auslösen könnten. Alles, was man also braucht, um eine Angst dieser Art zu bekämpfen, ist sehr viel Zeit und etwas Mut.“

Das hört sich vielleicht für manche etwas wirr an und birgt natürlich auch ein gewisses Risiko, aber es heißt ja auch, man muss seinen Feind kenne, um ihn besiegen zu können – und so eine Konfrontation mit der Panik ist genau das.
Während ihres Studiums in einer Stressphase haben sich diese Panikattacken bei Denise entwickelt. Sie fühlte sich sehr unter Druck gesetzt und es war für ihren Körper zu viel: „Der Auslöser war also weniger ein bestimmtes Ereignis, sondern eine Phase der Überbelastung.“

Die Kettenreaktion

Viele Ängste hängen mit einander zusammen. So besteht die Furcht vor der Zukunft, wie in den bisherigen Beispielen erkennbar, oft aus mehreren Ängsten, die sich zusammentun. Und so können auch Zukunftsängste bezüglich des Jobs aus einer ganzen Kettenreaktion von Ängsten bestehen, die schließlich mit der Befürchtung endet, andere zu enttäuschen. Sönke* befindet sich bereits in seinem dritten Ausbildungsjahr. Der 19jährige stellt sich immer wieder die Frage, was wäre, wenn er seinen Job verlieren würde. Das beschäftigt bestimmt jeden Azubi im Laufe seiner Ausbildung mindestens einmal. Sönke hat ein genaues Ziel vor Augen, dem er folgen möchte. Wenn diese Pläne nun durch den Verlust seiner Arbeit zerstört würden, ziehe das eine ganze Reihe an Problemen mit sich: kein Job bedeutet kein Einkommen und seine gesetzten Ziele könnte er auch nicht erreichen. Außerdem verliere er damit seine finanzielle Stabilität und er wäre wieder von seinen Eltern abhängig. Der Verlust der Selbstständigkeit und der Gedanke ohne Arbeit dazustehen, die aus der Angst vor dem Jobverlust entspringen. Dazu käme noch, dass er nicht nur sich selbst, aber auch die Menschen um ihn herum enttäuschen würde.

Sorgen verdrängen hilft nicht

Viele unserer Ängste sind teilweise mit unserer Kindheit oder unserer Erziehung, Erfahrungen und Erlebnissen verwurzelt – zum Beispiel kann ein traumatisches Spinnenerlebnis als man noch recht jung war in einer Heidenangst vor den achtbeinigen Krabblern resultieren. Auch unsere tiefsten Ängste können mit unserer Kindheit und Erfahrungen aus dieser Zeit zusammenhängen. Manche Menschen werden für ihr Leben geprägt, was auch Konsequenzen mit sich bringt. Sich diesen jedoch erstmal zu stellen ist gar nicht so einfach, wie das nächste Beispiel zeigt:

„Ich würde sagen, meine größte Angst ist, dass mich irgendwann Probleme und Sorgen, die ich lange recht erfolgreich verdrängt habe, einholen und ich dann nichts dagegen machen kann – also quasi die Kontrolle darüber verliere.“, erzählt mir Martha*, eine 21jährige Kunst- und Film-Studentin. „Bei mir kommt das daher, dass ich als Kind schlechte Erfahrungen mit meinem Vater gemacht habe, was mich lange ziemlich beeinflusst hat und, wenn ich ehrlich bin, auch manchmal immer noch tut. Manchmal bin ich mir auch nicht sicher, ob das wirklich die Ursache ist oder ob ich auch so denken würde, wenn ich jetzt beispielsweise einen total tollen Vater gehabt hätte. Die meiste Zeit denke ich auch, dass alles okay ist, nichts passieren wird oder ich damit klarkomme. Aber manchmal gibt es halt auch so Tage oder Situationen, in denen man damit konfrontiert wird und dann bekomme ich Panik. Ich habe eben nie wirklich was dagegen gemacht, sondern immer versucht, nicht drüber nachzudenken und es einfach verdrängt. Das Problem ist aber, dass einem Dinge, die man in der Kindheit erlebt und nicht richtig verarbeitet hat, oft erst im Erwachsenenalter einholen. Und das ist genau das, wovor ich Angst habe: davon irgendwann total aus der Bahn geworfen zu werden und nicht zu wissen, wie ich damit umgehen soll. Ich weiß nicht genau, wie lange ich diese Angst schon habe. Also irgendwie war es, glaube ich, schon immer da.“

Nicht selten werden psychologische Störungen, Ängste oder gar Phobien mit Erfahrungen aus der Kindheit erklärt. Traumata, die sich in dieser Zeit in die Gedanken der Kinder gefressen haben, prägen sie häufig ihr Leben lang und können sogar zu schlimmen Angststörungen führen. Sich seinen Ängsten zu stellen, fällt den meisten jedoch nicht leicht – vielen ist es ja schon unangenehm, darüber anonym zu sprechen – doch es gibt immer eine Möglichkeit, sich helfen zu lassen. Sich auszusprechen hilft oft. Alles nur zu verdrängen, ist keine Lösung. Viel mehr sorgt es nur für mehr Probleme.

Man sollte niemals die Ängste seiner Mitmenschen unterschätzen oder mit den Worten „Oh, die Angst hab‘ ich auch. So schlimm ist das nicht“ abtun. Ja, man kann dieselben Ängste haben wie andere, aber das bedeutet nicht, dass derjenige genauso mit ihnen umgeht. Es fühlt sich nicht gut an, wenn – nachdem man sich dazu überwunden hat, mit jemanden über seine Ängste zu reden – der Gesprächspartner, die mit Bedacht ausformulieren Erklärungen auf ein Wort herunter bricht. Ja, es mag „Zukunftsnagst“ sein, aber so einfach ist das nicht! Betrachtet man alle Ängste als dieselben, fühlen sich die meisten nicht richtig wahrgenommen – als würde man ihre Sorgen nicht als Teil ihrer eignen Persönlichkeit betrachten, sondern als eine Art Massenleiden. Kein gutes Gefühl.

Trotzdem ist es auch gut, zu wissen, dass man mit seinen Problemen und Ängsten nicht allein ist. Und wenn man sich vor einer Flut neuer Sorgen wiederfindet, darf man nicht den Kopf verlieren. Egal, wie viele Gedanken man sich auch macht, wie sehr man seine Zukunft plant, es kann immer etwas passieren, womit man nicht gerechnet hat – ob nun positives oder negatives. Ängste sind wichtig, sie bewahren uns davor, unbedacht zu handeln und Risiken einzugehen, die auch verdammt schiefgehen können. Sich von ihnen kontrollieren lassen darf man aber auch nicht, schließlich sind viele davon nur Szenarien, die sich unser Gehirn in seiner unendlichen Weisheit und Intelligenz ausgemalt hat – Danke dafür, Gehirn.

*Name von der Redaktion geändert.

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