Wie ist es, wenn man sein Land, seine Heimat verlässt, um in der Fremde ein neues Leben zu beginnen? Verliert man dann seine Familie und seine Freunde durch die Entfernung, stirbt früher oder später der Kontakt ab und man wird wirklich zum „verlorenen Sohn“? Das muss doch heute nicht mehr sein, denn Familie sind nicht mehr nur die Menschen, die man täglich sieht und die mit einem Verwandt sind.
Pilgerväter
Als sich Franz Daniel Pastorius im Jahr 1688 nach Amerika aufmachte, war es ein Abschied für immer. Seine Familie und Freunde in Deutschland ließ er hinter sich, heiratete eine Ausgewanderte in der neuen Heimat und hielt von nun an nur noch sporadisch Kontakt mit den Daheimgebliebenen. Falls seine Briefe überhaupt ankamen, dauerte es doch oft Wochen und Monate, bis er Nachricht aus der alten Heimat bekam. Ein Todesfall, ein neues Familienmitglied, die gesundheitliche oder wirtschaftliche Situation waren nur mit großer Verzögerung in Erfahrung zu bringen.
Dabei hatte Pastorius als der erste deutsche Einwanderer in der neuen Welt weit weniger Schwierigkeiten als die meisten seiner Schicksalsgenossen. Er konnte nicht nur auf hohem Niveau lesen und schreiben, er hatte auch die finanziellen Mittel, seine Sendungen auf den Weg zu bringen. Zudem pflegte er als Siedlungsgründer gute Beziehungen zum Gouverneur von Pennsylvania, William Penn. Seine Stellung ermöglichte es ihm sogar, Briefe für andere Siedler zu schreiben und zu versenden.
Für die meisten Auswanderer hieß ein neues Leben zu dieser Zeit einen völligen Neuanfang zu wagen. Wer weder lesen noch schreiben konnte und seine Heimat aus wirtschaftlichen Gründen verließ, hatte kaum eine Möglichkeit, seine Angehörigen von seinem Wohlergehen zu unterrichten. Mit Durchreisenden oder Heimkehrern verschickte mündliche Nachrichten waren oft die einzige Chance, wenn auch nur eine sehr geringe.
Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts änderte sich nur wenig. Selbst in der Generation unserer Großeltern war das Schicksal der Auswanderer und Einwanderer eine Trennung von ihrer Familie. Weihnachts- und Geburtstagskarten, hier und da ein Anruf aus der Ferne, und anfangs alle paar Jahre ein Besuch. Wenn man es sich leisten konnte. Die Kinder und Enkel kannten dann nicht einmal mehr die Namen der fernen Verwandtschaft, die endgültige Trennung war vollzogen.
Und heute?
Eine flüchtige Bekannte eilte neulich mit Einkaufstüten bepackt an mir vorbei. Noch im Gehen rief sie mir zu, dass sie am Abend mit einer Nachbarin zum Kochen verabredet sei und deswegen keine Zeit für ein Pläuschchen habe. Am nächsten Tag unterhielten wir uns über die Rezepte, die sie ausprobiert hatten, und ich fragte, warum sie denn nicht zusammen eingekauft hätten. Sie brach in Lachen aus und antwortete: „Aber doch nicht so eine Nachbarin! Eine von früher, aus der Türkei.“
Es stellte sich heraus, dass die beiden vor zwanzig Jahren Tür an Tür gewohnt hatten und immer noch befreundet waren. Regelmäßig kochen sie bis heute zusammen, über Skype. Jede bereitet ihre Zutaten vor und stellt Laptop oder Telefon auf den Küchentisch, dann kochen sie parallel das gleiche Gericht. Zudem schicken sie sich mehrmals am Tag Nachrichten per WhatsApp, Bilder der Familie oder auch nur der Einkäufe des Tages.
Ich muss zugeben, so engen und häufigen Kontakt habe ich nicht einmal mit Freunden, die in derselben Stadt wohnen, geschweige denn mit Familienmitgliedern über mehrere tausend Kilometer. Aber Not macht erfinderisch und moderne Technik ermöglicht ein ganz neues Verhältnis zu Verwandten und Freunden. Neugierig geworden, hörte ich mich in meinem Bekanntenkreis um, wie Menschen, deren Familien in anderen Ländern wohnen, mit diesen Kontakt halten. Dass moderne Kommunikation genutzt wurde, überraschte nicht. Was überraschend war, war das Ausmaß und die Häufigkeit, mit denen viele Kontakt zu ihrer Familie hielten. Als würden sie bis heute nur wenige Schritte entfernt wohnen, teilten sie alle Details des Alltagslebens miteinander.
Die Welt rückt zusammen
Vor einigen Jahren musste der Mann einer Cousine der Arbeit wegen für mehrere Monate nach Großbritannien. Sie hatten gerade ihr zweites Kind bekommen, die Große war gerade zwei. Damit Vater und Kinder sich in dieser sensiblen Entwicklungsphase oft genug sahen, wurde auch hier der Familiencomputer fast täglich ins Wohnzimmer oder in die Küche gestellt, und der Vater konnte seinen Kindern beim Spielen zusehen. Die Verbindung war noch langsam, das Bild ruckelte und die Verbindung brach immer wieder zusammen, und doch war es so möglich, dass das Kind seinen Vater sofort erkannte, als es ihn drei Monate später am Flughafen wiedersah.
Noch wichtiger sind diese Kontakte für Geflüchtete. Eine Afghanin erzählte mir von ihrer Schwester, die mit ihrer Familie während der Flucht einen anderen Weg einschlug und schließlich in Pakistan landete. 5500 Kilometer, und sie feiern jede Familienfeier zusammen, sehen den Kindern beim Aufwachsen zu, trösten einander, wenn es mal schwer wird und freuen sich, wenn es gut läuft. In Echtzeit. Noch vor wenigen Jahren hätten sie sich vermutlich aus den Augen verloren und wären sich ein paar Jahrzehnte später als Kandidaten in einer Fernsehshow tränenreich um den Hals gefallen.
Unzählige Menschen auf der Welt unterhalten bereits ebenso enge Beziehungen zu ihrer auf der ganzen Welt verstreuten Familie, wie andere zu ihren Verwandten einen Ort weiter. Für die Betroffenen scheint die neue Technik ein Segen, ermöglicht sie doch, den sicheren Hafen der Familie aufrechtzuerhalten, auch wenn man auswandert. So wäre wenigstens ein Aspekt des Lebens nicht ganz so stark wirtschaftlichen Zwängen unterworfen. Denn nicht nur Bildtelefonie oder schnelle Kommunikation ist ein Grund für die Beteiligten, von Post und Telefon zu neuen Medien überzugehen: Für die meisten ist die kostenlose Benutzung von Diensten wie WhatsApp oder Skype der Grund zum Umstieg.
Ein neues Zusammenleben
Vielleicht drängt sich der Gedanke auf, dass eine enge Verbindung zum Herkunftsland oder zu Landsleuten eine Integration in das Aufnahmeland erschwert. Tatsächlich fällt aber eher auf, dass kommunikative Menschen in jeder Hinsicht mehr kommunizieren. Gerade diejenigen, die täglich oder mehrmals täglich Kontakt in die Heimat pflegen, tun dies auch hier mündlich und persönlich, mit Nachbarn und Arbeitskollegen.
Die elektronische Kommunikation ermöglicht dafür ganz andere Phänomene. Saisonarbeiter, die aus den östlichen EU-Ländern Rumänien, Polen und Ungarn nach Deutschland kommen, sahen früher oft nur wenige Tage im Jahr ihre Kinder. Während die Eltern im Sommer als Erntehelfer, im Winter in Gastronomie und Hotels der Skigebiete tätig waren, kamen die Kinder bei den Großeltern auf dem Land unter. Eine Bindung zwischen Eltern und Kindern wurde so zumeist unmöglich, einen Ausweg gab es durch die desolate wirtschaftliche Situation dieser Länder nicht.
Wirtschaftlich hat sich bis heute wenig geändert, ganz im Gegenteil. Nicht mehr nur Erntehelfer kommen aus dem Osten in den Westen, auch Altenpfleger und Krankenschwestern. Nur können heute die Eltern am Leben ihrer Kinder teilnehmen, sie bei den Hausaufgaben unterstützen, bei den Prüfungen mitfiebern. Das einzige, was immer noch fehlt, sind Berührungen. Die von der modernen globalisierten Berufswelt geforderte Mobilität ist eben nicht ganz ohne Nachteile zu haben.
Vielleicht stehen wir vor einer grundsätzlichen Veränderung des Familienverständnis. Wenn räumliche Nähe nicht mehr zwingend notwendig ist, um enge und innige Beziehungen zu pflegen, kann man vieles in Frage stellen, was bisher Familie, Freundschaft aber auch Gesellschaft ausgemacht hat. Selbst geographische Staatsgrenzen können dann hinterfragt werden, wenn ein großer Teil der arbeitenden Bevölkerung das Land verlässt, aber dennoch eng verbunden bleibt. In Neal Stephensons Roman „The Diamond Age“ klingt eine solche weltweite Gesellschaft an, deren „Staaten“ und Familien nicht mehr ortsgebunden sind.
Segen oder Fluch?
So positiv sich die erleichterte Kommunikation auf weltweit verbreitete Familien auswirkt, so wenig bedenken viele die alte Warnung: „Kostenlos ist nicht umsonst.“ Facebook und WhatsApp stehen schon seit langem wegen ihrer Datenschutzpolitik in der Kritik, was ihrer weltweiten Verbreitung keinen Abbruch getan hat. Von kleineren Unternehmen mit völlig undurchsichtigen Methoden wie Viber nicht zu sprechen.
Beim Schreiben dieses Artikels sprach ich mit vielen Menschen, die Familie im Ausland haben und mit dieser auf die eine oder andere Weise kommunizieren. Es stellte sich, nicht unerwartet, heraus, dass die häufigsten verwendeten Dienste WhatsApp und Facebook sind, sowie Skype für Videotelefonie. Viber wurde mir nur selten genannt, ebenso wie FaceTime. Etliche der Menschen, mit denen ich sprach, wurden in ihrer Heimat verfolgt, manche haben auch noch Familie dort. Sie stammen unter anderem aus Afghanistan, Syrien und der Türkei und sprechen oder schreiben sich täglich mit ihren Angehörigen. Niemand wollte in meinem Artikel namentlich erwähnt werden, geschweige denn fotografiert werden.
Bei der Kommunikation im Netz sind die Menschen weniger zimperlich. Bei Facebook muss man seinen Klarnamen nennen, darum wird dieses manchmal gemieden. Wenn dann aber Viber genutzt wird, wo man sich nur mit seiner Telefonnummer registriert, hat man nicht viel gewonnen – in Deutschland ist die Telefonnummer zwingend mit dem Namen verknüpft. Maßnahmen zur zusätzlichen Verschlüsselung wurden von keinem meiner Gesprächspartner unternommen, zumindest nicht bei der privaten, familiären Kommunikation.
In liberalen Rechtsstaaten sollte dies kein großes Problem darstellen. Zwar werden immer Daten gesammelt und ausgewertet, doch die private Kommunikation sollte im Großen und Ganzen auch privat bleiben. Ob dies bei den Regimes, vor denen diese Menschen geflohen sind, auch der Fall ist, bleibt fraglich. Nicht umsonst wird der Klassiker „1984“ zum neuen Bestseller. Noch nie war Überwachung und Kontrolle einfacher, auch über Staatsgrenzen hinweg, als heute.
Ob wir statt der globalen Familie die globale Diktatur erleben werden, bleibt eine Frage, die wohl nur die Zukunft beantworten kann. Die ersten Schritte werden gerade in China getan, wo die Aktivität im Internet zu einer Bewertung des Bürgers führt, einem System, das beispielsweise die Kreditvergabe oder die Verteilung von Arbeitsstellen beeinflusst und dessen Kriterien recht undurchsichtig sind. Führt dann die tägliche Nachricht an den Bruder im westlichen Ausland dazu, dass die Schwester keine Beförderung bekommt?
Warten wir’s ab. Und sorgen durch umsichtige Netzpolitik dafür, dass uns die neuen Medien weiterhin ein besseres, engeres Verhältnis zu unseren Lieben ermöglichen, auch wenn sie tausende Kilometer entfernt sind.