Wir alle haben uns vermutlich schon einmal gefragt: Bin ich extrovertiert oder introvertiert? Was, wenn ich irgendwo dazwischen bin? Und was bedeutet das in Zeiten von Corona?
Die gute Nachricht vorweg: Du musst dich nicht zwischen zwei Extremen entscheiden. Die Wesenszüge, extrovertiert oder introvertiert zu sein, sind nicht wie Schwarz und Weiß. Sie sind vielmehr die Pole eines Spektrums. Wenn es dir also schwerfällt, dich konkret zuzuordnen, bist du vielleicht ambivertiert, liegst also zwischen den Polen.
Bevor wir uns auf dem Spektrum einordnen können, müssen wir mit ein paar Mythen aufräumen. Leider werden nämlich im Volksmund die Begriffe extrovertiert und introvertiert oft missverständlich benutzt.
Extrovertierte Menschen werden oft als kontaktfreudig und aufmerksamkeitsliebend verstanden. Introvertiertheit wird gleichgesetzt mit Unauffälligkeit und Schüchternheit. Tatsächlich haben diese Eigenschaften jedoch wenig damit zu tun, wie eine Person sich in Gesellschaft verhält, sondern damit, wie diese selbst die Gesellschaft wahrnimmt und verarbeitet.
Zur Veranschaulichung spreche ich gerne von der „sozialen Batterie“. Jeder Mensch pflegt soziale Kontakte, und jeder Mensch braucht eine gewisse Energie dafür. Die Frage ist also: Wie reagiert unsere Batterie auf Begegnungen mit anderen? Was lässt deine soziale Batterie leerlaufen? Und wie lädst du sie wieder auf?
Von Rampensäuen und Menschenhassern
Extrovertierte Personen kostet es Kraft, allein zu sein und sie ziehen ihre Kraft aus der Interaktion mit anderen Menschen. Ihre soziale Batterie lädt sich auf, während sie in Gesellschaft sind, sodass sie genug Energie haben, von der sie zehren können, wenn sie allein sind.
Bei Introvertierten ist es andersherum: Es kostet sie eher Kraft, von anderen Menschen umgeben zu sein, und sie brauchen Zeit für sich allein, um ihre Batterien wieder aufzuladen.
Das bedeutet nicht, dass alle Extrovertierten gleich Rampensäue sein müssen und alle Introvertierten heimlich Menschenhasser sind. Wie eine Person mit ihren Mitmenschen interagiert, ist eine davon unabhängige Charaktereigenschaft. Ob jemand viel redet oder lieber schweigt, ob dieser Mensch mehr mit anderen interagiert oder sich eher zurückhält, beeinflusst nicht unbedingt die soziale Batterie.
Manche Extrovertierte sind schüchtern und halten sich in einer Gruppe lieber zurück. Dennoch benötigen sie die Gesellschaft anderer für das Aufladen ihrer Batterie. Manche Introvertierte stehen gerne im Mittelpunkt und reden viel und laut, bedürfen dann aber wieder der Zeit für sich und ihre Batterie.
Introvertiert in einer Welt für Extrovertierte
Unsere Welt war bisher für Extrovertierte gemacht: Vollzeit arbeiten im Großraumbüro, Smalltalk an der Kaffeemaschine, gemeinsames Mittagessen, endlose Besprechungen, dann ein Feierabendbier – und außerdem mit der Clique um die Häuser ziehen. Wer beruflich erfolgreich sein und privat nicht übergangen werden will, muss sich von früh bis spät mit Menschen umgeben.
Wenn man sich früher verabschiedet oder die Mittagspause lieber allein verbringt, wird man schief angesehen oder muss sich rechtfertigen. Man verliert schnell den Anschluss und wird unter Umständen sogar für arrogant gehalten, weil man kein Interesse an diesen sozialen Kontakten habe.
Doch dann kam Corona und forderte neue Tugenden: social Distancing, möglichst zu Hause bleiben, Messen, Partys und Versammlungen meiden sind die neuen Devisen.
Social Distancing ist das Paradies der Introvertierten
Von vielen fordert die Pandemie eine radikale Umstellung ihres sozialen Alltags – nicht nur im Arbeits- oder Schulleben, sondern auch im privaten Umfeld. Jetzt zeigt sich ganz deutlich, wer extrovertiert ist – nämlich diejenigen, denen zu Hause schnell die Decke auf den Kopf fällt.
Introvertierte hingegen witzeln in den sozialen Medien darüber, dass plötzlich die ganze Welt gezwungen ist, nach ihren Spielregeln zu leben. In Memes fallen Sprüche wie: „Wenn du herausfindest, dass dein alltäglicher Lifestyle ‚Quarantäne‘ heißt.“ Oder: „Dafür habe ich mein Leben lang trainiert.“
Nachdem Introvertierte sich so lange in einer extrovertierten Welt zurechtfinden mussten, wird jetzt also – wenn auch unfreiwillig – der Spieß umgedreht. Wer weiß, vielleicht können begeisterte Extrovertierte durch die Pandemie etwas besser nachvollziehen, wie es Introvertierten bislang ging, wenn sie „schon“ um 22 Uhr die Party verlassen wollten. Länger zu bleiben war für sie genauso, wie es derzeit den Extrovertierten geht, da sie gar nicht auf die Party gehen dürfen.
Bist du introvertiert oder extrovertiert?
Konntest du dir mittlerweile die Frage beantworten, ob du selbst eher introvertiert oder extrovertiert bist? Fällst du in eines der Extreme, oder bist du ambivertiert und stehst zwischen den Polen, weil es dir mal so und mal so geht? Wie meisterst du die Kontaktbeschränkungen in der Pandemie? Und wie verhält sich deine soziale Batterie?
Die Funktionsweise und Auswirkungen von Extrovertiertheit und Introvertiertheit zu verstehen, hilft uns nicht nur dabei, uns selbst einzuordnen, sondern auch, unsere Mitmenschen besser zu verstehen. Sprich darüber mit Freunden und Bekannten. Erkläre ihnen das Konzept der sozialen Batterie, damit du und sie es in entsprechenden Situationen anwenden und eure jeweiligen Bedürfnisse besser kommunizieren könnt.
Die Welt nach Corona kann eine rücksichtsvollere sein, wenn wir zum Beispiel so miteinander kommunizieren:
„Hey, ich würde gern mit dir telefonieren, weil meine soziale Batterie gerade leer ist.“
„Tut mir leid, ich kann heute nicht kommen. Ich muss ein bisschen allein sein und meine soziale Batterie aufladen.“
Damit sind meine Worte für heute aufgebraucht. Ich ziehe mich jetzt zurück und lade meine Batterien auf.