Frühlingserwachen

Leistungsdruck, Depressionen, Teenager-Schwangerschaften, Streit. Was nicht selten der Inhalt aktueller TV-Soaps ist, wurde tatsächlich schon viel früher und tiefgreifender thematisiert, als RTL und Co. es heute tun. Dass junge Menschen im Laufe ihrer Jugend neben mehr oder weniger alltäglichen Herausforderungen wie immensen Hausaufgaben, ersten sexuellen Erfahrungen oder Versetzungsgefährdungen auch noch mit weitaus gefährlicheren Themen konfrontiert werden, beschreibt das Drama Frühlings Erwachen von Frank Wedekind auf revolutionäre Art und Weise. Wie viele Parallelen sich zwischen diesem Stück und unserer heutigen Realität ziehen lassen, soll im Folgenden erörtert werden:

Frühling – Eine Zeit des Umbruchs

Der Frühling wird meist sehr positiv assoziiert, man denkt sofort an Blumen, Sonnenschein, Licht und Neuanfänge nach kalten, grauen Wintern.  Dass die Veränderungen des natürlichen Frühlings meist positiver Natur sind, wärmere Tage und buntere Wiesen bringen, liegt auf der Hand.
Frank Wedekind hat sich in seinem Werk Frühlings Erwachen jedoch gegen das klassisch verbreitete Bild des Frühlings als Vorboten von Glück und Sommer entschieden. Stattdessen benutzt er den Frühling als Verbildlichung der immensen Veränderung, welcher sich die Jugendlichen im Prozess des Erwachsenwerdens stellen müssen, und beleuchtet somit sowohl positive als auch überwiegend negative Aspekte dessen, was er als „Erwachen“ bezeichnet.

Worum geht´s im Stück?

In dem 1891 in Buchform erschienenen Theaterstück wird der anstrengende Lebensweg der drei Jugendlichen Wendla, Moritz und Melchior geschildert, welcher gepflastert ist von den kleineren und größeren Hindernissen des Lebens. Schulische Überforderung, psychische Instabilität, vor allem jedoch mangelnde Aufklärung setzen den Teenagern schwer zu und behindern sie alle maßgeblich in ihrem Dasein. Die einzige Ausnahme hierbei bildet der überdurchschnittlich aufgeklärte, intelligente Melchior, welcher sich das Unwissen Wendlas eines Tages zu Nutze macht und damit eine große Schuld auf sich lädt.

Die Besonderheit des Werkes

Das Revolutionäre in diesem knapp 82 Seiten fassenden Stück ist unter anderem die Rolle, welche Wedekind den Erwachsenen zugeteilt hat. Diese zeichnet sich nämlich hauptsächlich durch Passivität, Ignoranz und Kaltherzigkeit aus. Erziehungsmaßnahmen, wie Schläge oder so genannte Korrektionsanstalten, werden distanziert und kritisch geschildert, auch wird Großteils Position für die Jugendlichen bezogen. Dies ist eine Entscheidung, die im noch recht konservativen neunzehnten Jahrhundert verständlicherweise hohe Wellen geschlagen hat. Auch das Frühlings Erwachen sich so unverblümt Themen wie unehelichem Geschlechtsverkehr oder als Süde verrufenem Selbstmord zuwendet und selbst diese empathisch und gänzlich ohne moralisch erhobenen Zeigefinger thematisiert, war eine außergewöhnlich mutige und einzigartige Entscheidung des Autors.

Damals wie heute aktuell

Vor allem seine erschreckende Zeitlosigkeit macht dieses Stück so bemerkenswert, denn obwohl zeitlich zwischen unserer Gegenwart und dem damaligen Veröffentlichungsdatum mehr als ein ganzes Jahrtausend liegen, wird beim Lesen der Lektüre in nahezu jedem Akt mehr als deutlich, was an den Lebenssituationen der drei verlorenen Teenager sich nur allzu gut auf die Schicksale der heutigen Jugend übertragen lässt. Lässt man sich nur ein auf die teils aufwühlenden, authentischen Schilderungen des ganz unterschiedlichen Leidens von Wendla, Moritz und Melchior, so kann man allein durch das aufmerksame Lesen des Buches unendlich viel für den besseren Umgang mit unserer Jugend lernen.

Ein zweifelhaftes Schulsystem

Am meisten beklagen die Jugendlichen in Frühlings Erwachen die Intoleranz und das Unverständnis der Erwachsenen. Neugierde und Wissensdurst werden unter dem Deckmantel von Anstand und Gehorsam ausgebremst, die Erwachsenenwelt will, so hat es den Anschein, keine lebendigen, fühlenden Teenager, sondern lediglich effektive, problemlose Lernroboter haben.
„Um mit Erfolg büffeln zu können, muss ich stumpfsinnig wie ein Ochse sein.“ (2. Szene, 1. Akt), erkennt Moritz und bringt damit eine Kritik am leistungsorientierten Bildungssystem zum Ausdruck, welche bis heute die erschreckende Aktualität besitzt, dass Gefühle, Neugier und Zwischenmenschlichkeit häufig von schulischem Erfolg abhalten, was für viele Teenager eine große Belastung darstellt.

Zahlen und Fakten

Die generelle Belastung von Teenagern durch die Schule wird auch durch aktuelle Studien belegt. So hat zum Beispiel die Kaufmännische Krankenkasse (KKH) 2018 die Ergebnisse einer Untersuchung vorgestellt, welche erschreckende Zahlen ans Tageslicht brachten. Nach der Hochrechnung der Werte eigener Patienten auf die Bevölkerung ganz Deutschlands musste die Krankenkasse zu dem Schluss kommen, dass bundesweit mutmaßlich über 1 Millionen Kinder und Jugendliche an psychischen Störungen leiden, wobei die gemeldeten Fälle von Krankheitsbildern wie beispielsweise Depressionen oder Burnout in den letzten zehn Jahren rasant angestiegen sind. So hat sich das Erscheinungsbild Burnout in der Altersgruppe von 13 bis 18-jährigen Schülern um dramatische 119 Prozent erhöht.
Obwohl im Rahmen der Studie durchaus erwähnt wird, dass für diese traurige Entwicklung natürlich nicht Schulen allein, sondern auch das familiäre Umfeld oder die Peergroup verantwortlich seien, wird doch der Apell an Schulen und Lehrer erhoben, sich im Umgang mit belasteten Schülern zu sensibilisieren und mehr Eigeninitiative zu ergreifen.

Schuld und Unschuld

Doch nicht nur das Schulsystem, auch Sexualität und Aufklärung werden in Frühlings Erwachen ausführlich thematisiert. Obgleich Aufklärung in Deutschland heutzutage natürlich fortschrittlicher und weitaus weniger tabubehaftet ist, als sie es damals noch war, so finden sich dennoch auch bei dieser Thematik Parallelen zur heutigen Gesellschaft. Wendla, gänzlich unwissend über nahezu alles Sexualitätsbezogene, wird von Melchior geschwängert ohne wirklich dem Sex eingewilligt zu haben.
Die kindliche Wendla muss letzten Endes den hohen Preis für die ungewollte Schwangerschaft bezahlen, ohne irgendeine Verantwortung für das Geschehene zu tragen.
„Oh, warum hast du mir das getan? (…) Wendla, was hast du getan?“ (5. Szene, 3. Akt), fragt Frau Bergmann, Wendlas Mutter, nachdem sie von der Schwangerschaft ihrer vierzehnjährigen Tochter erfahren hat, und impliziert somit eindeutig, wenn auch eventuell ungewollt, Wendlas Alleinschuld an der Situation.

Schuldzuweisungen heutzutage

Dies ist ein Verhalten, welches sich, auch in abgewandelter Form, leider bis heute noch tief verankert in der Gesellschaft zeigt. Es äußert sich beispielsweise durch die Erwartungshaltung vieler Menschen an Mädchen und Frauen, Rücksicht auf Männer zu nehmen, sich nicht aufreizend zu kleiden, in gefährliche Situationen zu begeben oder ähnliches. Die Diskriminierung des weiblichen Geschlechts generell, vor allem jedoch in sexuellen Kontexten, so wie sie Wendla erfährt, ist also auch in unserer eigentlich so aufgeklärten Zeit noch aktuell.

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Frühlings Erwachen zwar kein einfaches, mit Sicherheit jedoch ein außergewöhnliches Stück ist, in dem sich, dank seiner Zeitlosigkeit, auch heute noch wichtige Lektionen für ein reibungsloseres Zusammenleben verschiedener Generationen entnehmen lassen.
Auch wenn im Stück selbst viele Tiefschläge stattfinden und es mehr als einmal den Anschein macht, alle Hoffnung sei verloren, so werden doch auch Ansätze und Vorschläge zu besserer Konfliktbewältigung angesprochen. Am Anfang ihrer Schwangerschaft denkt Wendla: „Ach, wenn nur jemand käme, dem ich um den Hals fallen und erzählen könnte.“ (7. Szene, 2. Akt), und dies ist tatsächlich eine der Kernbotschaften des Buches, auf welche auch wir heutzutage uns besinnen sollten: 
Besser zuhören, aufmerksamer sein, einfühlsamer, was sich schon in kleinen Gesten und ohne viel Aufwand zeigen lässt, genau das kann manchmal Leben retten.

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