Wenn Du den letzten Tag, die letzte Woche, den letzten Monat vor deinem geistigen Auge abspielst, hast du doch sicher das eine oder andere getan, was du lieber rückgängig machen würdest. Ein wenig geflunkert, einen lieben Menschen verletzt, einen Termin verpasst, zu viel getrunken.
Ist das gleich eine Sünde? Wenn ich Bekannte frage, mehr oder weniger religiöse Menschen, selbst regelmäßige Kirchgänger, werden die meisten verlegen. „Mord?“, „Lügen?“ „Ehebruch habe ich bestimmt nicht begangen!“ „Und die sieben Todsünden?“ Welche das wirklich sind, weiß kaum einer zu beantworten. Dabei sind sie im Sprachgebrauch fest verankert. Ob man nun versucht, die „Sieben Todsünden der Gartenarbeit“ zu vermeiden, um seine Pflanzen am Leben zu halten, oder die „sieben Todsünden der Internetsicherheit“ begeht, und damit zum Spielball krimineller Hacker wird, von Verkehr bis Innenarchitektur findet sich ein Katalog schwerer Fehler, deren Bezeichnung als Sünde diese in den Rang religiöser Vergehen hebt.
Der Sünder im Glauben
Der Mensch ist ein Sünder. Soviel ist zumindest aus christlicher Perspektive klar. Seit Adam und Eva ihr lauschiges Plätzchen im Paradies verloren, schleppen wir als ihre Nachfahren diesen Makel mit uns herum. Eine schwere Bürde. Den meisten christlichen Kirchen ist dies der Grund, schon Säuglinge zu taufen, sie zu befreien von der geerbten Schuld, ihre Unschuld wiederherzustellen. Manchen Christen, aber auch dem Islam und Judentum, ist dieser Begriff der Erbsünde nicht eigen, dort wird der Mensch unschuldig geboren. Trotzdem ist auch ihnen der Begriff der Sünde bekannt – ein Vergehen gegen Menschen und mittelbar auch gegen Gott. Der Mensch ist in jedem Fall wie Adam und Eva verführbar, und muss sich bewusst Versuchungen widersetzen.
Was aber eigentlich Sünden sind, darüber ließen sich ganze Traktate füllen. Gerda Riedl beschreibt in einem Text zur Ausstellung „Die sieben Todsünden“ (2016 im Augsburger Diözesanmuseum) die Sünde als Entfremdung von Gott, wobei sie unterschiedliche Schweregrade annehmen kann. Die lässliche Sünde wäre dann wie ein böser Streit unter Liebenden, die Todsünde könnte zur Scheidung aufgrund „unüberbrückbarer Differenzen“ führen. Das Höllenfeuer wartet!
Woher weiß man überhaupt, dass man eine schwere Sünde begangen hat? Denn auch hier gilt: Unwissenheit schützt vor Strafe nicht. Eigentlich soll jeder sich an sein eigenes Gewissen wenden, nach sorgfältiger Prüfung theologischer Autoritäten. Den meisten Menschen sind aber umfangreiche Gewissensprüfungen zu jeder noch so kleinen Entscheidung fremd, auch das Informieren darüber ist zumindest mit größerem Aufwand verbunden. Hilfreich sind die zehn Gebote: sie bilden für Christentum, Judentum und Islam den Kern der Regeln, deren Beachtung zu einem gottgefälligen Leben führt. In der katholischen Kirche gibt es Beichtspiegel oder Gewissenspiegel, Listen, die die Selbstprüfung des Gewissens unterstützen sollen. Sie stützen sich tatsächlich auf die zehn Gebote, mit konkreten Beispielen und Anmerkungen zur Anwendung bei der Beichte. Dass selbst diese Listen nur bedingt helfen, zeigt sich in der Beichte selbst. Seit Jahren sind die Beichtstühle leer, eher geht der moderne Mensch zum Psychotherapeuten, damit seine Seele zur Ruhe findet. Dort ist dann auch nicht mehr von Sünde die Rede.
Sünde und Laster
Trotzdem bleiben die „Sieben Todsünden“ ein Begriff, der leicht über die Lippen gleitet, wenn auch nur noch selten im theologischen Sinn. Dabei ist „Sünde“ in diesem Fall eine ungenaue und missverständliche Bezeichnung, denn eigentlich handelt es sich bei den sprichwörtlichen „Sieben Todsünden“ nicht um Sünden im Sinne einer strafbaren Handlung, sondern um unerwünschte, gefährliche Charaktereigenschaften, die tatsächliche Sünden nach sich ziehen können. Theologisch würde man diese “Todsünden“ also eher als Laster bezeichnen. Strafrechtlich würde man heute von Motiven sprechen, die dann Verbrechen begründen.
Der Kanon dieser Laster hat sich zwar im Laufe der Zeit ein wenig gewandelt, die sich schließlich herauskristallisierenden missliebigen Eigenschaften wurden schließlich auf sieben eingegrenzt: Hochmut, Wollust, Zorn, Neid, Geiz, Völlerei und Faulheit, und den Kardinaltugenden, also erwünschten Charaktereigenschaften gegenübergestellt. Die vier weltlichen Tugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung, die seit der Antike bekannt sind, werden durch drei christliche, Glaube, Liebe und Hoffnung ergänzt, um ein stimmiges, symmetrisches Positiv-Negativ-Bild zu ergeben.
Solcherlei Tugend/Laster-Kataloge gibt es natürlich nicht nur im Christentum, alle Weltreligionen wie auch das konfuzianische China kennen diese Möglichkeit der Gewissensprüfung. Jede Gesellschaft hat das Bedürfnis, ihren Mitgliedern Verhaltensregeln zur Hand zu geben, die das Zusammenleben in Gemeinschaften erleichtern. Denn genauer betrachtet sind die Laster nicht (nur) von theologischer Bedeutung, sie bieten Richtlinien für Sozialverträglichkeit.
Die lasterhafte Moderne
Sind diese Lasterkataloge denn überhaupt noch von Belang, in einer Zeit, in der der Einfluss der Kirchen immer weiter schwindet? Wenn nicht einmal Gläubige zwischen Sünde und Laster unterscheiden können, wenn man nicht mehr auf griffige Sprache und klare Systeme zurückgreifen muss und will, verschwinden die Sieben Todsünden dann aus unserem Alltag?
Seit der Aufklärung und der damit einhergehenden Besinnung auf das Individuum hat sich die Haltung zu den Lastern verändert. Nach und nach begann man ihnen auch Gutes abzugewinnen. Jede schlechte Eigenschaft kann zu einem Verbrechen führen – aus Jähzorn schlägt einer den anderen nieder, aus Habgier stiehlt und betrügt der Mensch, aus Faulheit versagt man dem Mitmenschen dringend notwendige Hilfe. Doch zugleich führen Neid und Habgier zu Ehrgeiz, der, wenn er zu gesellschaftlichem Aufstieg führt, positiv bewertet wird. Wenn jemand stolz ist auf seine Errungenschaften, wird das ebenfalls anerkannt, und unsere Wirtschaftsordnung basiert geradezu auf Maßlosigkeit.
Jeder Mensch trägt diese Eigenschaften in unterschiedlichem Maße in sich. In geschlossenen, hierarchisch organisierten Gesellschaften, wie im europäischen Mittelalter, werden diese als gemeinschaftsschädigend geächtet, wogegen in einer individualistischen Gesellschaftsordnung dem Vorankommen des Einzelnen, seinem Herausstechen aus der Masse, ein positiver Wert beigemessen wird. So werden auch Verhaltensweisen toleriert, die die Missachtung Anderer beinhalten, sofern diese keine strafrechtliche Relevanz haben.
Schon in der Spätantike wurden Laster und Tugenden einander als wechselnde Gegensatzpaare gegenübergestellt, als gerüstete Personifikationen, die sich im Kampf begegnen. Diese Darstellung setzt sich über Jahrhunderte fort, beispielsweise in einem schwäbischen Katechismus von 1447. Hier tritt der Hochmut gegen die Demut an, der Geiz gegen die Milde, die Unkeuschheit gegen die Keuschheit, der Zorn gegen die Geduld, die Unmäßigkeit gegen die Mäßigung. Der Neid wird von der göttlichen Liebe bekämpft, die Trägheit von der Andacht. Auch wenn die hier gebildeten Paare nicht den üblichen Kanon der Kardinaltugenden abbilden, lassen sie sich darauf zurückführen. Erst eine genauere Betrachtung dieser Gegensätze lässt die schwindende Bedeutung der Laster und Tugenden in der Moderne hervortreten. Dabei sind sie immer noch präsent wie eh und je, nur verstecken sie sich besser, unsere Todsünden.
Sünde für Sünde
Luxuria – Wollust
Um die Wollust ist es vielleicht am schlechtesten bestellt. Oder am besten, denn sie ist des Menschen liebste Sünde. Schon die 90-er-Jahre-Erotiksendung „liebe sünde“ wusste geschickt mit dem Begriff zu spielen. Die andere Seite steht auf verlorenem Posten. Wem ist die Keuschheit noch ein hohes Gut, wenn auf allen Straßen bunte Plakate von Erotikmessen künden? Wollust und Unzucht wird erst strafrechtlich relevant, wenn sie gegen das Selbstbestimmungsrecht einer Person verstößt, wenn Vergewaltigung und Menschenhandel ins Spiel kommen oder Unmündige beteiligt sind. Seit langem ist Untreue in der Ehe kaum noch ein Thema, das außerhalb der Beziehung jemanden angeht. Nicht nur der heilige Bund der Ehe, die Monogamie selbst scheint veraltet, wenn alle von „Polyamorie“ sprechen.
Superbia – Hochmut
Beim Hochmut sieht es nicht viel besser aus, und das schon seit längerem. Nicht erst seit dem Siegeszug des protestantischen Arbeitsethos schmiedet jeder sein eigenes Glück, komme was wolle. Demut ist ein Wort, das kaum noch verwendet wird. Menschen, die sich selbst zurücknehmen, werden nicht gehört, gewonnen hat, wer am lautesten schreit. Bei Bewerbungen wird bevorzugt, wer sich selbst am besten verkauft, sich im besten Licht darstellt, Prahlerei mit Leistung verwechselt. Jetzt kann auch jemand Präsident einer Weltmacht werden, der aus der Verhöhnung anderer Gewinn zieht.
Gula – Völlerei
Völlerei treibt uns in den Ruin. Nicht plakativ, sondern real. Wörtlich genommen, sind Fettleibigkeit und Alkoholismus mit ihren Folgen zu Volkskrankheiten geworden, wir fressen uns zu Tode. Im übertragenen Sinne zwingt uns unsere Wirtschaftsordnung mit ihrer Wachstumsgläubigkeit eine Maßlosigkeit auf, in der ihr eigener Untergang begründet liegt. Wir riskieren die Zerstörung der Umwelt, die Vernichtung die Ressourcen, die wir zum Überleben brauchen für die kurzfristige Befriedigung unserer Gelüste. Sämtliche Aufrufe zur Mäßigung verpuffen angesichts der vielen Verlockungen der Wohlstandsgesellschaft. Anderen jedoch gönnen wir nicht die Butter auf dem Brot.
Invidia – Neid
Neid dagegen ist mittlerweile zur Tugend mutiert. Seit auch Wirtschaftswissenschaftler den Neid als Antrieb zum gesellschaftlichen Aufstieg erkannt haben, als Motor gesellschaftlicher Umwälzung, ist er kaum zu bremsen. Jeder vergleicht sich mit seinen Nachbarn, mit seinen Freunden und will mindestens das erreichen, was diese erreicht haben: Wohlstand, gesellschaftlichen Status oder vermeintliche moralische Überlegenheit. Dabei darf man nicht vergessen, dass zwischen dem Wunsch, selbst mehr zu besitzen oder besser zu sein als der Andere und dem Verlangen nach sozialer Gerechtigkeit ein Unterschied besteht. Man kann auch gesellschaftliche Teilhabe und Wohlergehen auf Kosten einer privilegierten Schicht fordern, ohne auf deren Reichtum neidisch zu sein. Dieser Wunsch bezieht dann auch die Besserstellung anderer mit ein und dient nicht der persönlichen Bereicherung.
Accedia – Faulheit
Auch wenn man meint, die Faulheit besiegt zu haben in Zeiten des Selbstoptimierungswahns und zunehmender Burnouterkrankungen, so ist es weniger der körperliche Müßiggang, der hier zum Problem wird. Schließlich ist auch die Andacht als Gegenpol nicht gerade aktionistisch. Es ist die Trägheit des Herzens und des Geistes, die zur Missachtung der Gemeinschaft führt. Einerseits steht die Weigerung, sich von immer schrecklicheren Bildern berühren zu lassen, Katastrophennachrichten wie Popcorn zu verschlingen im Bewusstsein des eigenen Wohlstands und der eigenen Sicherheit. Andererseits ist es leicht sich führen zu lassen, mit der Masse mitzuschwimmen statt eigene Gedanken zuzulassen. Wozu Gerüchte und Meldungen überprüfen, wenn es doch so leicht ist, ihnen Glauben zu schenken, auch wenn damit andere verleumdet und verletzt werden.
Avaritia – Geiz
Auf den ersten Blick die Mildtätigkeit und Großzügigkeit in Form von Spenden beliebt. Ein trügerisches Bild in Zeiten, in denen „Geiz ist geil“ ein erfolgreicher Werbespruch ist. Geholfen wird bestenfalls, wenn es sich damit glänzen lässt, auf den Spendengalas der Superreichen. Auch wenn immer wieder Wellen der Hilfsbereitschaft durch die Gesellschaft schwappen, wie in der Flüchtlingskrise, gilt doch im Alltag meistens Sparsamkeit am höchsten.
Ira – Zorn
Nur der Zorn gilt immer noch als Verbrechen. Er entlädt sich in Gewalt, die immer noch zu den schlimmsten Verbrechen führt. Die Wut wird unterdrückt, kanalisiert, verschwiegen. Ab und zu explodiert sie in einem Amoklauf, einem grausigen Mord oder einem Terroranschlag. Ansonsten führt sie immer mehr ein Schattendasein in einer vordergründig zivilisierten Welt. Von Zeit zu Zeit blitzt sie auf, wenn aus Fußballspielen Massenschlägereien werden oder wenn Demonstrationen ausarten. Nur im Netz kann heute noch der Zorn gebührend ausgelebt werden. Im Schutz der Anonymität wird gepöbelt, was das Zeug hält. Konsequenzen muss man kaum fürchten, oder?
Andere Zeiten, andere Sünden
Vielleicht ist weniger die Sünde die, die verschwindet. Eher hat sich die Bedeutung der Begriffe gewandelt, sie sind weniger eindeutig, werden auf andere Dinge bezogen. Von Mahatma Gandhi kursiert eine Liste mit einer modernen Interpretation der sieben Todsünden. Schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wandelte diese Liste die klassischen Laster in moderne Interpretationen um, deren Vorteil vor allem in der Einschränkung der positiven Seiten der klassischen sieben Todsünden besteht. Reichtum ohne Arbeit, Genuss ohne Gewissen, Wissen ohne Charakter, Geschäft ohne Moral, Wissenschaft ohne Menschlichkeit, Religion ohne Opfer, Politik ohne Prinzipien – dieser Lasterkatalog birgt durchaus gesellschaftlichen Sprengstoff. Wo die alten Lasterkataloge geeignet waren, den gesellschaftlichen Frieden durch Wahrung des Status Quo zu gewährleisten, wird selbiger von Gandhi durch die Forderung nach Gerechtigkeit erreicht.
Werte wandeln sich, wie die Welt sich verändert. Unsere grundlegenden Laster kreisen aber immer um das gleiche alte Problem – das Ich gegen die Gemeinschaft. Nur fehlt uns jetzt eine unwiderlegbare Autorität, die uns mit göttlicher Gewissheit in unsere Schranken weist und uns den Weg zeigt. Wir müssen selbst auswählen, ob und wenn ja, an welche Listen und Vorgaben wir uns halten, ob wir überhaupt Weisung brauchen oder unserem Gewissen unumschränkt vertrauen, dass es uns in die richtige Richtung führt.