Was ist Angst? Wie überwindet man diese? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Kurzgeschichte von Debora Röltgen. Lyrisch und einfühlsam muss sich die Protagonistin des Textes ihrer Angst stellen. Stellst auch du dich deiner Angst?
Wenn es uns Angst macht, ist es ein Versuch wert.
Sie klappte das Buch zu, das sie gerade gelesen hatte, streckte ihr Gesicht in die Sonne und atmete den Duft des langsam näher kommenden Sommers an diesem wunderschönen Frühlingstag in sich ein. “Eine Geschichte zu Ende zu lesen ist wie ein erlebnisreicher Tag, den man am Abend in seinen Gedanken und nachts in seinen Träumen wiederkehrend reflektiert”, dachte sie dabei. “Er bleibt präsent und man hat das Bedürfnis weiterzulesen, auch wenn man glaubt die Geschichte hätte ihr Ende bereits geschrieben.”
Aber wie alle guten Geschichten, endet diese Geschichte genau dort, wo sie beginnt.
Die Sonnenstrahlen berührten ihre Haut, sie spürte die Wärme in ihrem Gesicht. Sie blickte in den hellblauen Himmel, ein paar Vögel zwitscherten und zogen ihre Kreise in der Unendlichkeit dieser schönen blauen Ferne und sie spürte wie ihre Lider immer schwerer wurden. Sie schloss die Augen, ihr Atem wurde langsamer. Ihre Lungen nahmen noch einen tiefen Zug der frischen Luft, die ihr helles Haar im Wind schweben ließ. Ihr Brustkorb bewegte sich auf und ab, immer langsamer. Ihre Lippen öffneten sich leicht, sie schlief.
Das Buch in ihren Händen löste sich und glitt ihr Finger für Finger allmählich zu Boden.
Der Aufprall ließ sie wieder schlagartig erwachen. Sie öffnete die Augen und plötzlich hörte sie das Rauschen der Wellen so nah wie noch nie. Sie blickte über ihren Balkon, über dessen Geländer sich ein Panorama aus blauem Wasser, zarten Wellen und dem Duft der Meeresbrise in ihr Herz manifestiert hatte, seit dem Tag an dem sie hergekommen war.
Im Hintergrund zeichnete ein Berg seine prächtigen Konturen in den Himmel.
Wie gerne sie eines Tages die Aussicht dieses Berges genießen würde von ganz oben.
Jedoch hieß es, der Berg sei unmöglich zu besteigen, es gäbe keine Wege. Einige wenige Abenteurer hatten versucht hinaufzugelangen und waren dabei an den Klippen hinuntergestürzt.
Sie betrachtete den Berg. Seine mächtige Form, die Klippen, an denen die Wellen ihre zornige Wut abprallten. Wie es dort oben wohl aussehen würde? Ihre kugelrunden blauen Augen leuchteten in der Sonne, die sich Stück für Stück am Horizont verabschiedete.
Es war spät geworden. Wie lange hatte sie bloß geschlafen?
Gerade als sie beschloss, langsam wieder ins Haus zu gehen und das Buch aufheben wollte, war es ihr, als hörte sie eine Art Flüstern.
„Ist da jemand?“ – sagte sie. Ihr Haus war abgelegen von jeglichen Nachbarn. Es stand einsam da und bis in die Stadt waren es mehrere Kilometer. In der Regel war nie jemand anderer dort, als sie selbst. „Hallo?“. Stille. Nur das friedliche Rauschen des Meeres, ein paar Vögel, die den Abend willkommen hießen und der Klang des Windes, der freudig durch die Bäume tänzelte. Sie schüttelte den Kopf und gerade als sie sich erneut bücken wollte hörte sie es wieder, diesmal klarer: „Hast du Angst?“
Sie erschrak, ihre Augen weiteten sich. „Wer ist da?“ – rief sie. „Hallo?“ Stille.
Sie ließ den Blick suchend schweifen. Hatte sie sich das nur eingebildet?
Doch dann erneut: „Hast du Angst?“
„Wer ist da?“ – fragte sie nun mit erhobener Stimme. „Wer da ist, habe ich gefragt?“ – ihre Stimme begann zu zittern. Ihr Atem wurde schneller. Ihr Kopf pochte, ein stechender Schmerz machte sich plötzlich breit. Sie kniff die Augen zusammen, rieb sich die Schläfen.
„Geh hinauf.“ – hörte sie die Stimme sagen.
„Wie bitte?“ – fragte sie.
„Geh hinauf. Du wirst deine Antwort dort oben finden.“
Welche Antwort, dachte sie sich. Was war nur los mit ihr? Hatte sie zu viel Sonne getankt? Hatte sie womöglich einen Sonnenstich erlitten?
„Deine Antwort wartet dort oben.“
„Wer bist du?“ – fragte sie in die nächtliche Stille.
„Deine Inspiration“ – erwiderte die Stimme. „Meine Inspiration?“ – fragte sie erstaunt.
„Geh den Berg hinauf und du wirst finden, was du immer gesucht hast.“
Der Schmerz in ihrem Kopf wurde immer stärker.
„Aber ich kann dort nicht hinauf gehen! Es gibt keinen Weg!“ – sagte sie mit schmerzverzerrtem Gesicht und kam sich langsam lächerlich vor, weil sie scheinbar Selbstgespräche zu führen schien.
„Es gibt immer einen Weg.“ Stille.
Was würde sie dort oben finden? Was war ihre Frage, auf welche sie die Antwort so sehnlichst zu suchen vermochte? Ihre Gedanken kreisten. Sie blickte sich noch einmal um, vergewisserte sich, dass wirklich niemand anderer außer ihr hier war. „Bist du noch da?“ Stille.
Sie drehte sich noch ein paar mal umher. Die Sonne war inzwischen untergegangen und die warmen orange roten Farben am Himmel spiegelten sich im friedlich glitzernden Wasser. Die Spitze des Berges erhellte sich in diesem abendlichen Lichterspiel. Noch einmal schaute sie in die Ferne hinauf, fragte sich, ob sie wohl jemals dort oben stehen würde. Dieser Moment hatte etwas Magisches, dachte sie. Dann ging sie ins Haus hinein.
In dieser Nacht träumte sie etwas Außergewöhnliches.
Sie stand am Gipfel jenes Berges. Die Wolken zogen an ihr vorbei. Sie konnte lediglich die weiße Schicht sehen, die für sie aussah wie kleine Wattebäusche. Eine Aussicht gab es nicht. Vor ihr stand eine Frau. In dem Moment, als sie nach ihrer Hand griff, stürzte sie in die Tiefe.
Schweißgebadet wachte sie auf. Das Buch, das sie am Vortag zu Ende gelesen hatte, lag neben ihr auf dem Boden. Die Sonne blitzte durch das geöffnete Fenster.
„Was zum…“ Sie rieb sich die Augen, dehnte ihren Nacken, der völlig verspannt war.
Hatte sie das alles nur geträumt? Die Stimme? Der Berg, die Frau auf diesem Berg?
Es war ihr so real vorgekommen. Und hatte sie das Buch nicht gestern auf dem Balkon liegen gelassen?
Langsam machte sie sich Sorgen um sich selbst. Sie stand auf, streckte die Arme in die Höhe, ihre Knochen knackten, sie verzog das Gesicht. Dann ging sie barfuß zum Fenster, schloss die Augen und atmete die morgendliche Luft beherzt ein. Sie gähnte, reckte den Kopf aus dem Fenster und richtete den Blick zu dem Berg. Fixierte ihn.
Was hätte sie schon zu verlieren, wenn sie nun einfach hingehen würde. Sie würde ja nur schauen, ob es wirklich keinen Weg nach oben gibt. Wahrscheinlich würde sie dort ankommen, sich über sich selbst den Kopf schütteln und wieder unverrichteter Dinge nach Hause zurück kehren.
Wie konnte ein Traum sie nur so beschäftigen? Es ließ sie nicht los. Selbst wenn es umsonst wäre, Bewegung würde ihr gut tun. Schließlich war sie lange nicht mehr dort gewesen.
Sie packte sich eine Flasche Wasser in ihren Rucksack, schmierte sich ein Brot für den Weg und verließ das Haus.
Nach einer guten Stunde Wanderung war sie am Fuße des Berges angelangt. Imposant lag er nun direkt vor ihr. Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte an den bewachsenen Felswänden hinauf. Ganz schön hoch, dachte sie sich. So aus der Nähe kam er ihr noch wesentlich größer und prächtiger vor. Sie nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasche, die Sonne wurde langsam wärmer. „Was mache ich eigentlich hier?“ – flüsterte sie mehr sich selbst als irgendwem anderen zu. Vielleicht weil sie insgeheim erwartete, irgendwer könnte ihr darauf eine Antwort geben.
„Gehe hinauf und du wirst deine Antwort finden.“ Sie erschrak und prustete vor Schreck den halben Schluck Wasser, den sie zuvor zu sich genommen hatte wieder geradewegs aus ihrem Mund hinaus. „Hallo?“ – fragte sie. „Verfolgst du mich?“ Stille. „Wer bist du?“.
„Das habe ich dir doch schon gesagt. Höre auf mich und gehe hinauf!“
„Ja, schon klar, du bist meine Inspiration Kommst du bitte nun raus aus deinem Versteck, langsam finde ich das nicht mehr lustig!“ Nur das Rauschen des Windes war zu hören. Ein paar Äste knarzten unter seinem Tanz. Vögel kreisten um den Berg herum, sangen ihre Lieder und im Hintergrund rauschten die Wellen sanft und leise.
„Nun gut“ sagte sie laut. „Dann werde ich dir jetzt mal zeigen, dass es hier keinen Weg gibt!“.
Sie sagte das so entschlossen, dass sie selbst über sich lachen musste, weil sie mit einer unsichtbaren Person kommunizierte und man sie womöglich für wahnsinnig erklären würde, hätte man sie beobachtet. Sie marschierte los, den Blick immerzu auf den Berg gerichtet. Die Felswände waren so hoch und bewachsen, es war unmöglich dort auch nur ansatzweise einen normalen Weg zu finden. Sie dachte an die armen Abenteurer, die einst ihr Leben ließen, bloß weil sie sich einer neuen gefährlichen Herausforderung hatten stellen und sich gegenseitig ihren Mut hatten beweisen wollen. Dann blieb sie plötzlich stehen. Oder hatten diese Menschen möglicherweise auch die gleiche Stimme gehört wie sie? War sie verrückt geworden?
Hatte die Einsamkeit in ihrem verlassenen Haus sie zur Psychopathin degradiert? Schließlich lebte sie bereits über zwei Jahre alleine dort. Sie hatte es vorgezogen, sich ihrem Roman zu widmen, den sie sich in dieser Zeit vorgenommen hatte zu schreiben. Bloß hatte sie mehr Zeit damit verbracht über sich selbst nachzudenken und über ihre Vergangenheit, als dass sie die kreative Muse überrumpelte und sie den Blick nach vorne richten konnte.
Viel zu oft dachte sie darüber nach, was sie verloren hatte, statt die Schönheit, die vor ihr lag zu sehen.
Es war dieser Verlust eines einzigen Menschen, dem sie ihr Herz bedingungslos geschenkt hatte, welcher sie dazu bewegte, mit ihrer Einsamkeit alleine zu leben. Das einzige, was sie liebte war der Blick ihres Balkons auf das Meer und den unnahbaren Berg vor ihrem kleinen einsamen Haus, dessen Gipfel für sie so unerreichbar schien, wie das Gefühl je wieder Liebe zu fühlen.
Während sie so mit sich und ihren Gedanken abschweifte, merkte sie nicht, dass sich vor ihr etwas bewegte. Erst als sie beinahe zu stolpern drohte, kam sie wieder zurück ins Hier und Jetzt und blickte zu Boden.
Ein riesiger Felsbrocken versperrte ihr den weiteren Weg geradeaus. Merkwürdig, dachte sie sich. Der wäre ihr doch von Weitem aufgefallen? War sie so in Gedanken an ihre Vergangenheit versunken gewesen? Sie schüttelte den Kopf und drehte sich um, da sie augenscheinlich geradeaus nicht mehr weiterlaufen konnte. Doch dann traute sie ihren Augen kaum. In jenem Moment, in dem sie sich umdrehte um wieder zurückzulaufen, erkannte sie eine Lichtung, die in den Berg hinaufzuführen schien. Ihre Augen weiteten sich und ihr Mund öffnete sich ungläubig. Sie rieb sich die Lieder, um sicherzugehen, dass sie nicht träumte. Zusätzlich nahm sie noch einen Schluck Wasser, um eine Halluzination aufgrund von Dehydrierung ausschließen zu können. Der Weg vor ihren Augen wurde ihr immer klarer und sichtbarer. Inmitten dieser riesigen unbestreitbaren Felswände war er plötzlich da.
Sie atmete tief ein und wieder aus. Dehnte ihre Schultern und ging in Richtung der Lichtung, dessen Weg sich ihr wie eine Tür in eine andere Welt zu öffnen vermochte. Während sie den Pfad entlangging ertappte sie sich immer wieder dabei, wie sie sich umdrehte um zu sehen, ob ihr jemand folgte. Dann hörte sie es plötzlich wieder.
„Hast du Angst?“ Ihr Herz begann zu rasen. Ihr wurde warm. Hektisch drehte sie sich um, wollte zurückgehen, doch sie konnte den Rückweg nicht mehr erkennen. Ihre Sicht war verschwommen. Den Weg, den sie bis hierher zurückgelegt hatte, gab es auf einmal nicht mehr. Um sie herum waren nichts als Felsen und Sträucher. Lediglich geradeaus führte sie der Weg weiter. Ihr wurde schlecht. Hilfesuchend blickte sie nach oben in den blauen Himmel. Sie versuchte sich zu beruhigen, atmete ein und aus. Ein … und … Aus. Ein …. Aus.
„Hast du Angst?“
„JA verdammt!“ – schrie sie jetzt. „JA, ich habe Angst!“
Sie erschrak vor sich selbst und ihrem entschlossenen Tonfall. Und gleichzeitig fühlte sie sich plötzlich befreit, die Worte ausgesprochen zu haben.
„Dann gehe hinauf!“
Sie hatte es aufgegeben herauszufinden aus welchem Gebüsch oder welcher Baumkrone sie diese Stimme hätte einem Menschen zuordnen können. Es war niemand bei ihr, das war klar. Was auch immer sich hier gerade abspielte, es war mit normalem Verstand nicht zu erklären.
Also ließ sie sich einfach darauf ein. Was hatte sie schon zu verlieren? Ihr Herz hatte sie bereits verloren, wenn sich nun auch noch ihr Verstand verabschiedete, dann sollte es so sein.
Denn auf einmal war sie neugierig geworden. Und aus Neugier resultierte Mut.
Entschlossen folgte sie dem Weg weiter geradeaus. Inmitten zwischen Bäumen, Sträuchern, Felsbrocken und Steinen marschierte sie zwischen riesigen Felswänden einfach den Pfad entlang, der sich weiter vor ihr auftat.
Es vergingen etwa zwei Stunden, als sie sich entschloss eine kurze Pause einzulegen, da ihre Beine müde wurden und der Weg anstrengend war, da die Steigung immer stärker zunahm.
Sie setzte sich hin, angelehnt an die kühle Felswand und schloss für einen Moment die Augen.
Ihr angestrengtes Herz begann langsamer zu schlagen, ihr Körper setzte sich zur Ruhe. Ihre Schultern entspannten sich und sie schlief ein.
Plötzlich stand sie wieder am Gipfel des Berges. Die Sicht verschwommen, die Wolken ganz nahe. Sie konnte die Aussicht nicht sehen. Vor ihr die Frau, die ihr bereits in ihrem Traum der letzten Nacht begegnet war. Sie versuchte sie zu erkennen, ging näher an sie heran, streckte ihre Hand nach der ihren aus. Doch je näher sie ihr kam, desto weiter näherte sich ihr eigener Köper dem Abgrund. Sie zog die Hand ruckartig zurück, und der Abgrund rückte wieder in die Ferne.
Sie verstand, dass der Versuch die Nähe dieser Frau zu suchen, sie selbst den Berg hinunter stürzen würde.
Also blieb sie ihr bewegungslos gegenüber stehen. Versuchte nur mit den Augen die Konturen ihres Körpers zu erkennen. Suchte mit ihrem Blick das Gesicht der Fremden.
„Wer bist du?“ – fragte sie schließlich.
Die Frau antwortete nicht. Sie glaubte zu erkennen, dass sie die Lippen bewegte, doch konnte sie ihre Stimme nicht hören. Sie kam ihr so bekannt vor und sie spürte diese Wärme um sich herum, die sie ausstrahlte, je weiter weg sie ihr war. Je näher sie kam, desto kälter und unbehaglicher wurde ihr.
Sie konnte es nicht zuordnen, wusste nicht wohin mit sich.
Was passiert nur mit mir? – dachte sie sich.
Sie versuchte krampfhaft ihr Gesicht zu erkennen und dann meinte sie zu sehen, dass die Frau lächelte. Und sie lächelte ebenfalls.
So standen sie nun beide dort, oben auf dem Gipfel dieses Berges. Sahen sich an ohne sich zu erkennen. Bewegungslos. Schweigend. Ruhig. Und je länger sie sich betrachteten, je länger sie versuchte den Glanz in ihren Augen zu sehen, desto mehr umgab sie das Gefühl von Wärme.
Plötzlich ging die Frau einen Schritt auf sie zu. Überrascht wich sie zurück.
Der Abgrund näherte sich, je näher sie ihr kam.
„Bleib stehen!“ – sagte sie.
Die Frau kam näher. Sie schaute sie an, konnte sie jedoch noch immer nur schemenhaft erkennen. Hektisch drehte sie sich um. Es waren nur noch wenige Meter bis zum Abgrund. Doch die Frau blieb nicht stehen.
„Bitte geh zurück!“ – flehte sie. „Bitte komm mir nicht näher!“
Ihr wurde kalt, je näher sie ihr kam.
Sie hörte sie nicht. Ihr großer Körper stand nun unmittelbar vor ihr.
„GEH WEG!“ – schrie sie! Sie merkte bereits den Felssprung unter ihrem linken Fuß, der bereits beinahe ins Leere zu treten drohte.
„BITTE!“ – sie fing an zu weinen. „Ich werde fallen!“
Und dann streckte die beinahe unsichtbar wirkende Frau ihre Hand nach ihr aus und sie stürzte den Abgrund hinab.
Ihre Augen öffneten sich schlagartig und sie war so wach wie nie.
Verwirrt blickte sie sich um. Sie lehnte noch immer an der kühlen Felswand, an der sie eingeschlafen war. Der Weg, den sie zurückgelegt hatte, war wieder verschwunden. Nur der Pfad, den sie noch zu gehen hatte, lag wartend und auffordernd vor ihr.
Was hatte es nur mit diesem Traum auf sich? Es war nun das zweite Mal, dass sie den gleichen Traum hatte. Wer war nur diese Frau, der sie dort begegnet war? Und warum ließ diese sie erneut in den Abgrund stürzen?
„Bist du da?“ – fragte sie ins Leere, ohne eine Antwort zu erwarten.
„Ich bin immer da.“
Nun war sie überrascht. Damit hätte sie nicht gerechnet.
„Was hat dieser Traum zu bedeuten?“ – fragte sie.
„Die Frage kannst du dir selbst beantworten“ – erwiderte die Stimme.
Sie dachte nach. Der Traum hatte ihre Gedanken verdreht, sie konnte sich nicht konzentrieren.
„Gehe den Weg hinauf und du wirst die Antwort auf deine Frage dort finden.“
Ein Seufzer entglitt ihr. Sie versuchte festzustellen, wie viel Uhr es wohl war und wie lange sie geschlafen hatte. Wie spät auch immer es zu sein schien, zurück kam sie auf dem Weg, wie sie hergekommen war so oder so nicht. Es blieb nur der Weg weiter nach Vorne. Weiter ins Ungewisse und weiter auf der Suche nach einer Antwort, dessen Frage sie noch immer nicht wirklich kannte.
Es vergingen weitere zwei Stunden, die sie einem Weg ins Nirgendwo folgte. Und wenn sie eine Gewissheit hatte, dann jene, dass sich der Rückweg konsequent nach jedem Schritt, den sie nach vorne ging, weiter verschloss. Es gab kein Zurück. Irgendwann drehte sie sich auch gar nicht mehr um, um danach zu suchen. Ihr Blick war stur nach vorn gerichtet. Schritt für Schritt dachte sie über den Traum nach, in dem sie beide Male in den Abgrund gestürzt war.
Das erste Mal war es ihre eigene Schuld gewesen. Sie hatte sich der Frau, dessen Berührung ihr scheinbar das Todesurteil bedeutete, genähert, sie berührt, hatte sich ihre Zuneigung sogar gewünscht. Das zweite Mal hatte sie sich ihr entzogen und auf schöne Art und Weise zu spüren bekommen, was es bedeutete Abstand zu nehmen.
Doch dann war diese Frau es gewesen, die sich ihr näherte. Und obwohl sie ihr klarzumachen versuchte, dass diese sie den Abgrund hinunter stürzen würde, wenn sie nicht sofort Abstand zu ihr nahm, kam sie ihrem Flehen nicht nach.
Hast du Angst? – hatte die Stimme sie zu Beginn gefragt. Sie hatte es immer umgangen zu antworten. Erst als sie sich dazu bekannte, dass sie sehr wohl Angst empfand, hatte sie sich befreit gefühlt. Doch wovor hatte sie eigentlich Angst? Es war immer ihr Traum gewesen, diesen Berg hinaufzugehen. Hatte sie Angst, dass sie abstürzen könnte, wie es den Abenteurern vor ihr widerfahren war und wie sie es nun zweimal geträumt hatte?
Hatte sie Angst vor dem möglichen Fall? Oder hatte sie Angst vor dem eigentlichen Weg hinauf?
Nun war sie bereits inmitten dieses Weges und die Angst wurde immer weniger. Sie wurde mutiger mit jedem Schritt, den sie tat. Neugieriger was sie am Gipfel erwarten würde. Es beängstigte sie nicht einmal mehr, dass es hinter ihr keinen Rückweg mehr gab. Sie glaubte nun daran, dass sie die Antwort auf Ihre Frage oben angekommen, erhalten würde.
Und dann ganz plötzlich als die Sonne langsam hinter den Bäumen des Weges verschwand, die Wärme nachließ und sie nach der Anstrengung eine leichte Kühle auf ihrer Haut empfand, als der Tag sich dem Ende neigte, die Welt zur Ruhe kam und nur noch eine einzige Seele ihren Weg auf einen Berg voran ging, da erblickte sie das Ziel vor ihren Augen. Und sie traute diesen kaum.
Sie hatte es geschafft. Sie war vollends angekommen oben auf dem Gipfel jenes Berges, den sie sich so lange erträumt hatte zu erreichen. Jeder Weg hinter ihr war verschwunden. Sie konnte nicht mehr zurück. Und die Tatsache, dass sie auch nicht wusste, wie sie jemals wieder herunter kommen würde, beängstigte sie keineswegs. Denn sie war da, wo sie immer sein wollte. Jetzt in diesem Augenblick. Eine Träne kullerte ihre erröteten Wangen herunter. Sie wischte sie mit dem Zeigefinger weg. Sie ging ein paar Schritte vorwärts. Und es waren nicht die Wolken, die sie sah, sondern eine Landschaft, die sie sich schöner nicht hätte vorstellen können. Weite und Unendlichkeit. Das glitzernde Meer, die Fischerboote, die von so weit oben nur wie kleine weiße Punkte auf einem dunkelblauen Untergrund gezeichnet zu sein schienen.
Der Wind wehte ihr um die Nase, sie atmete den Duft der Freiheit ein.
Als sie sich umdrehte erkannte sie die Frau aus ihren Träumen. Sie stand weit von ihr entfernt. Keine Bewegung. Kein Wort. Es waren nur ihre Blicke, die sich trafen und die sie gegenseitig nicht sehen konnten und sie wusste, dass dies so bleiben muss.
Denn dieses Mal träumte sie nicht. Dieses Mal würde sie nicht abstürzen.
Sie drehte sich wieder um, blickte in die Ferne und erkannte ihr kleines verlassenes Haus inmitten grüner Flächen. Es wirkte so weit weg. Und für einen Augenblick war ihr, als würde sie ihr eigenes Selbst auf dem kleinen Balkon sitzen sehen, mit einem Buch in der Hand, den Blick auf den Gipfel dieses Berges gerichtet im Licht des Sonnenuntergangs. Und sie musste lächeln.
In dem Moment erkannte sie die Antwort auf ihre Frage. Und sie wusste, dass Angst keine Flügel hat. Sie erkannte, dass jeder Weg, so unmöglich er auch zu beschreiten sein mag, durch denjenigen gegangen werden kann, der diesen mit seinem Herzen sieht.
Und in jenem Moment ließ sie ihre Angst dort oben für immer zurück.
Alleine, ohne Berührung, ohne Worte. Ohne sie.
Denn wenn es ihr Angst machte, war es ein Versucht wert. Das wusste sie nun.
Und sie nahm Anlauf. Und sie sprang.
Als sie aufwachte, war es bereits Abend, die Sonne war gerade untergegangen und der Himmel beleuchtete den Gipfel eines Berges in seinen wärmsten Farben. Sie blinzelte. Beinahe wäre ihr das Buch aus der Hand gefallen. Sie blickte auf den Berg hinauf und es war ihr, als würde sie dort oben jemanden stehen sehen. Sie rieb sich die Augen, dehnte ihren Nacken und blickte zufrieden auf das Buch, das sie gerade neu geschrieben hatte und das erste mal gedruckt in Händen hielt. Niemals war es ihr leichter gefallen, eine Geschichte zu schreiben. Niemals hatte die Angst ihr mehr Inspirationen schenken können. Glücklich blickte sie auf den in Himmelblau gedruckten Titel.
HÖHENANGST.