„Dein Rock war aber auch ziemlich kurz. Lippenstift sendet eben solche Signale. Man kann nachts doch nicht alleine raus. Triff dich einfach nicht mit solchen Leuten. Warst du etwa betrunken?“ Die demütigenden Reaktionen, mit welchen Opfer von Sexualstraftaten weltweit konfrontiert werden, sobald sie sich an Freunde, Bekannte oder die Öffentlichkeit wenden, sind grenzenlos. Wie sich solch eine Toleranz gegenüber Sexualdelikten in unserer Gesellschaft etablieren konnte und wie diese sich äußert, soll im Folgenden erörtert werden.
Beispiele weltweit
Was bei anderen Gewaltdelikten undenkbar wäre, scheint in diesen Fällen schon beinahe gang und gäbe zu sein: Eine implizierte Mitschuld des Opfers. In Irland ist es die Spitzenunterwäsche der Klägerin, welche im Laufe eines Vergewaltigungsprozesses als Zeichen der Einwilligung herumgezeigt wird. In Amerika ist es der Täter, welcher trotz nachgewiesener Vergewaltigung lediglich ein paar Sozialstunden bekommt, unter anderem weil das Opfer alkoholisiert war.
In Deutschland ist es ein Polizeichef, welcher öffentlich verkündet, als Selbstschutzmaßnahme sollten Frauen sich in der Öffentlichkeit nicht wehrlos machen, und damit die Illusion schafft, potentielle Opfer könnten sexuelle Übergriffe verhindern beziehungsweise provozieren.
Eine erdrückende Realität
Dies ist trauriger Alltag. Nicht in kriegsgebeutelten, armen oder korrputen Ländern ohne Recht und Ordnung, nein. Es ist Alltag auch bei uns, bei uns mit eigentlich funktionierenden Rechtsapparaten, Gesetzen und Menschenrechten.
Wo dieses massive Fehlverhalten im Umgang mit Sexualstraftaten seinen Ursprung hat und ob es jemals wirklich anders war, das lässt sich heute nur schwer nachvollziehen.
Parallelen zu Lolita
Auf jeden Fall auffällig an der aktuellen Entwicklung hinsichtlich der implizierten Mitschuld des Opfers sind jedoch die eindeutigen Parallelen hin zu Nabokovs kontroversem Roman Lolita, der bereits zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts eine brennende Diskussion bezüglich Frauen- und Kinderrechten entfachte, welche der heutigen durchaus ähnlich ist.
Das als Liebesgeschichte getarnte Buch handelt von dem Mittdreißiger Humbert Humbert, welcher Interesse für seine zwölfjährige Stieftochter Dolores Haze, genannt Lolita, entwickelt, ihr Stiefvater wird und sie aufgrund einer Verkettung von Ereignissen als Halbwaise mit auf eine Reise quer durch Amerika nimmt wobei es immer wieder zu sexuellen Handlungen kommt bis Lolita schließlich flieht und er sie wie besessen sucht.
Was dieses Werk so prekär macht ist die komplett aus Humberts subjektiver, teils beschönigender Sicht erfolgende Erzählweise, welche so poetisch und literarisch elegant ist, dass sie fast vergessen lässt, um wen es sich bei seiner Angebeteten handelt. So beispielsweise beschreibt er Lolita eines Tages als „rosig, golden, bestäubt – hinter dem Schleier meiner beherrschten Lust (…), und die Sonne lag auf ihren Lippen“ (S. 97 f.), wobei die schöne Umschreibung tatsächlich viel mehr nach Liebe klingt als nach krankhafter Besessenheit, was es dem Leser erschwert, einen kritischen Blick zu bewahren.
Sexualisierung als möglicher Ursprung
Auch das in der Gesellschaft bis heute vertretene Bild der klassischen Lolita als frühreifes Mädchen in kurzen Shorts und bauchfreiem Top, mit Herzchensonnenbrille lasziv an einem Lollipop schleckend, welches dem Werk Lolita zu verdanken ist, weckt nicht gerade Assoziationen mit dem klassischen Missbrauchsopfer.
„(Sie) hob benommen den Fuß, zerrte an den Schnürsenkeln und ließ dabei die Innenseite ihres Schenkels bis zum Dreieck des Slips sehen – Was Beinezeigen angeht, war sie immer merkwürdig unachtsam oder schamlos oder beides gewesen.“ (S. 202 f.), stellt Humbert fest, kurz bevor er sie zum ersten mal vergewaltigen will. Wieder einmal wird der Leser so durch Humberts Beschreibung von Lolitas Verhalten getäuscht. Lolita zog ihre Schuhe aus wie ein ganz normales Kind, lediglich Humbert sah darin etwas gewollt Verführerisches, was er sich zunutze machen wollte.
Dieses problematische Verhalten ist auch in der Gesellschaft oft aufzufinden. Sei es das Schlecken an einem Eis am Stiel, das Flattern eines Rockes im Wind oder was auch immer, unendlich oft werden normale Ereignisse oder Handlungen fälschlicherweise verführerisch interpretiert und sexualisiert, so wie auch Humbert Lolitas kindliches Verhalten nur durch den Schleier seiner Lust betrachtet und so den Missbrauch rechtfertig.
Schuldzuweisungen
Genau hier setzt auch die aktuelle Debatte an, in deren Rahmen sich immer mehr und mehr Opfer sexueller Gewalt anhören müssen, selbst zu dem Missbrauch beigetragen zu haben, es nicht anders gewollt zu haben, den Täter provoziert zu haben und noch viel mehr.
So wird auch Lolita bis heute Großteils als romantisch-dramatische Liebesgeschichte verstanden wird, in der nicht selten Humbert die Rolle des armen, liebeskranken Opfers annimmt. Dabei sagt er direkt: „Hätte ich mir selbst den Prozess zu machen, so verurteilte ich Humbert wegen Vergewaltigung zu mindestens fünfunddreißig Jahren (…)“ (S.509), und nimmt damit eigentlich jeglichen Lesern, die fest von seiner Unschuld und Lolitas Freiwilligkeit überzeugt sind, die Luft aus den Segeln.
Auch Lolitas vermeintlichen Spaß an den unzähligen Übergriffen widerlegt sie persönlich durch Äußerungen wie: „Du widerliches Scheusal. Ich war ein frisches Gänseblümchen, und nun sieh, was du aus mir gemacht hast. Ich müsste die Polizei anrufen und sagen, dass du mich vergewaltigt hast.“ (S. 231).
Obwohl in dem Roman also sowohl Humbert als auch Lolita mehrfach tatsächlich von Vergewaltigung sprechen, scheint dies immernoch nicht in die Köpfe vieler Leser durchgedrungen zu sein.
Auch hier lassen sich Parallelen zur traurigen Realität erkennen, in welcher sexuelle Belästigung, Missbrauch oder gar Vergewaltigungen trotz erdrückender Wahrhaftigkeit häufig von der Öffentlichkeit und den Medien nicht als solche wahrgenommen werden.
„Stell dich nicht so an.“, „Damit musst du eben rechnen.“, „In Beziehungen gehört das mal dazu.“, dies sind nur ein paar wenige Beispiele dessen, mit dem Opfer von Sexualdelikten zu kämpfen haben.
Illusionen
Früher gab es, und erschreckenderweise ist dieses bis heute Großteils erhalten, das Bild des klassischen Missbrauchs: Ein dunkler, einsamer Ort, ein böser, fremder Mann, ein kleines, hilfloses Mädchen, das schreit und weint und sich doch nicht wehren kann. Darauf werden wir in der Grundschule vorbereitet, davon wird in den Medien berichtet, davor warnen uns unsere Eltern. Doch die Wahrheit wagt kaum jemand auszusprechen: Ein Großteil der sexuellen Übergriffe findet innerhalb der Familie oder des nächsten Bekanntenkreises statt, ganz so wie in Lolita, und bei diesen ohnehin schon immensen Zahlen muss man hinzukommend auch noch die sehr hoch vermutete Dunkelziffer beachten.
Anders als bei Missbrauch durch Unbekannte wird durch Taten innerhalb der Familie oder des Freundeskreises das Opfer gleich doppelt in eine äußerst schwierige Situation gebracht: Nicht nur gilt es, den Übergriff selbst zu verarbeiten, auch kommen häufig Konflikte, Spannungen und sogar Schuldzuweisungen seitens Angehöriger hinzu, mit welchen man sich auseinandersetzen muss, eine Spaltung der Familie steht auf dem Spiel, der Täter stürzt das Opfer in Gewissenskonflikte.
Ungerechtigkeit
Bei Lolita war es der Vorwurf, sie habe es durch ihr offensichtliche Schwärmerei für ihren Stiefvater doch gar nicht anders gewollt, bei anderen realen Fällen sind die Begründungen der Täter selbst und teils auch der Justiz oft nicht anders.
Wird ein hilfloses Wesen Opfer brutaler sexueller Übergriffe, ist das öffentliche Mitgefühl oft groß, doch wo bleibt die Solidarität bei weniger offensichtlichen Vergehen? Wo bleibt die Unterstützung für Opfer, welche nicht dem klassischen Standard entsprechen?
Sexualdelikte fangen nicht erst bei einer brutalen Vergewaltigung an und nicht jeder Übergriff läuft nach dem gleichen Schema ab.
Unsere Gesellschaft – Unsere Aufgaben
Dieses Themenfeld ist so unfassbar komplex und doch wird es innerhalb unserer Gesellschaft auf ein paar wenige nicht annähernd ausreichende Anhaltspunkte heruntergebrochen.
Das Werk Lolita zeigt uns, dass Missbrauch unendlich viele Facetten hat, ebenso wie Missbrauchsopfer nicht zwingend auf den ersten Blick als solche auffallen müssen. Um diese Komplexität jedoch begreifen und damit umgehen zu können, ist es zwingend notwendig, endlich damit aufzuhören, mit Vorurteilen und Vorwürfen um uns zu werfen und Menschen aufgrund ihrer Kleidung, ihres Verhaltens oder ihrer Person zu ächten.
Es wird Zeit, die Blicke zu schärfen und die Ignoranz zu stoppen.
Es wird Zeit, endlich die Wahrheit zu sehen.
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