Sie waren überall, die Kinder mit leeren Blicken und müden Augen, die Kinder mit blauen Flecken, zerschnittenen Armen und unaussprechlichen Geheimnissen. Sie waren nicht in den Nachrichten oder einem neuen Kinofilm, sondern direkt um mich herum, und zwar am Gymnasium, von Beginn der fünften Klasse an bis zum Ende der dreizehnten.
Alleingelassen
Was klingt wie eine Übertreibung, wie eine extreme Überdramatisierung, das war für mich jahrelang traurige Normalität. Genau so wie es die Ignoranz der Lehrkräfte war. Dazu gibt es hunderte Beispiele, die mir spontan einfallen. Da war das Mädchen, welches bei schlechten Noten jedes mal von seiner Mutter geschlagen wurde. Eine andere Mitschülerin wuchs in einem extrem emotional belastenden Elternhaus auf und litt zudem stark unter den Folgen sexuellen Missbrauchs. Ein weiteres Mädchen überlegte sich mit 16 Jahren, Prostituierte zu werden, begann, den Unterricht zu schwänzen um Drogen zu nehmen und sich „Sugardaddys“ zu suchen. Eine Freundin von mir ging jahrelang jede Pause auf dem Schulklo erbrechen, weil ihre Bulimie so schlimm war.
Und da war ich.
Unsere eine große Gemeinsamkeit, so unterschiedlich das Leid auch gewesen sein mag, war vor allem eines: Wir alle waren ganz allein in unserem offensichtlichen Schmerz.
Vorurteile
Was an Hauptschulen schon größtenteils normal ist und an Realschulen nach und nach durchgesetzt wird, davon sind Gymnasien meiner Erfahrung nach noch meilenweit entfernt: Qualifizierte psychologische Betreuung durch festangestellte Schulsozialarbeiter oder Schulpsychologen.
Warum, das verstehe ich bis heute nicht. Liegt es etwa daran, dass automatisch davon ausgegangen wird, mit höheren Bildungsstandard sinken auch die Probleme der Schüler? Dass man denkt, familiäre Probleme wie Gewalt oder Missbrauch seien bei Akademikerfamilien kein Thema? Dass die Meinung, gerade am Gymnasium solle sich hauptsächlich aufs Lernen und ansonsten auf nichts konzentriert werden, so weit verbreitet ist?
Gerade diesen Vorurteilen gilt es doch energisch entgegenzutreten. Nein, nur weil wir auf das Abitur hinarbeiten bedeutet das nicht, dass wir nebenher nicht noch wichtigere Probleme gehabt hätten.
Vorurteile, dass bestimmte Probleme noch immer ausgewählten gesellschaftlichen Gruppen oder Bildungsklassen zuzuordnen seien, halten sich bis heute hartnäckig, dabei steht längst außer Frage, dass sie überall und zu jeder Zeit auftreten können.
Erschreckende Zahlen
Obwohl es bisher leider nur wenige speziell auf Gymnasien bezogene Statistiken gibt, kann man auch von allgemein auf Jugendliche bezogenen Untersuchungen erschreckende Erkenntnisse gewinnen. In ganz Deutschland ist Selbsttötung nach Verkehrsunfällen die häufigste Todesursache junger Menschen zwischen 15 und 24. Warum gibt es so viele Jugendliche, die ihr ganzes Leben noch vor sich haben und dennoch lieber den Tod wählen? Welchen extremen Belastungen sie bereits im Kindes- und Jugendalter ausgesetzt waren, mag man sich kaum vorstellen, und dennoch scheinen es den Zahlen zufolge nach keine traurigen Einzelfälle zu sein.
Es ist als Jugendlicher in Deutschland also wahrscheinlicher, an Selbstmord zu sterben als an einer körperlichen Krankheit. Dennoch werden Depressionen und andere psychische Störungen im Unterricht noch immer kaum bis gar nicht behandelt. Dabei wäre Aufklärungs- und Präventionsarbeit ein wichtiger Schritt, um diesen verzweifelten Jugendlichen zu signalisieren, dass sie wahrgenommen werden und nicht alleine sind.
Gewalt kennt keine Grenzen
Tatsächlich herrscht auch noch immer die weit verbreitete Illusion, „Problemkinder“ würden sich nur an Haupt-, Werkreal- und Sonderschulen aufhalten, die Realität zeichnet jedoch ein gänzlich anderes Bild. Gerade in Bezug auf Kindeswohlgefährdungen innerhalb der Familie ist einer der größten Fehler unserer Gesellschaft noch immer, sich auf Vorurteile zu verlassen. Dabei sagt der Unabhängige Beauftragte für sexuellen Kindesmissbrauch selbst: „Missbrauchende Männer stammen aus allen sozialen Schichten.“, er ergänzt, dass über missbrauchende Frauen leider noch nicht ausreichend geforscht wurde. Und dennoch wird im Alltag trotz akuter Gefahr bei den Akademikerfamilien lieber weggeschaut.
Jeder kann betroffen sein
Auch andere psychische Erkrankungen wie beispielsweise Essstörungen können uneingeschränkt bei Kindern und Jugendlichen aller Schulformen auftreten. Gerade restriktive Formen der Essstörungen wie Magersucht gehen oft mit einem übersteigerten Kontrollbedürfnis und Perfektionszwang seitens der Betroffenen einher, weshalb diese Erkrankungen vermutlich auch bei Gymnasialkindern häufiger aufzufinden sind. Auch andere Formen der Essstörungen oder anderes selbstschädigendes Verhalten werden von den Jugendlichen unter anderem als Stressventil benutzt, um Druck abzubauen oder zur Beruhigung. Wahrscheinlich aufgrund der erhöhten Lernanforderungen und des Drucks aus dem Umfeld, von den Eltern beispielsweise oder Lehrern, greifen also auch Gymnasialkinder immer wieder zu solch ungesunden Maßnahmen.
Das Problem der Finanzierung
Ich verstehe, dass es viel zusätzlicher Aufwand ist, Gymnasiallehrer entsprechend fortzubilden und zu sensibilisieren oder alternativ qualifiziertes Fachpersonal anzustellen, doch die Sicherheit und der Schutz von Kindern ist definitiv eine ganz falsche Stelle zum Sparen. Natürlich ist die Finanzierung von Hilfsmaßnahmen immer ein schwieriges Thema und ich verstehe, dass nicht immer alles bedingungslos gefördert werden kann.
Gerade an Schulen fehlt es oft auch in anderen Bereichen an dem nötigen Geld, marode Decken, veraltete Technik und anderes sind ebenfalls häufige Probleme, die Geld benötigen und nicht einfach zurückgestellt werden können.
Dennoch finde ich es wichtig, jeder Schule einen geschulten Schulsozialarbeiter zur Verfügung zu stellen, der für die Kinder und Jugendlichen einen neutralen Ansprechpartner bietet und auch mit komplexeren Situationen professionell umgehen kann.
Auch die Umverteilung bereits bestehender Schulsozialarbeiter wäre als Übergangslösung ein möglicher Ansatzpunkt. Statistiken von Ende 2010 zeigen, dass Schulsozialarbeiter an Gymnasien gerade einmal 5,13 % aller Schulsozialarbeiter innerhalb von Baden-Württemberg ausmachen, und damit in ihrer Anzahl hinter allen anderen Schularten am Ende stehen.
Besser geschulte Lehrer als Möglichkeit
Da diese Umstellung gerade im Aspekt auf Finanzierungsmöglichkeiten und Fachkräftemangel vermutlich viel Zeit benötigen würde, in welcher weitere Kinder und Jugendliche leiden müssten, könnte man ergänzend auch das Lehramtsstudium ändern.
Obwohl natürlich in erster Linie der fachliche Anteil bestehen bleiben soll, könnte durchaus auch beim gymnasialen Lehramtsstudium ein höherer Fokus auf Pädagogik liegen. Aktuell ist der Pädagogikanteil beim Grundschullehramt, welches häufig mit einem Hauptschullehramt gekoppelt ist, am höchsten. Der Gedankengang, dass nur junge Kinder pädagogisch gut ausgebildete Lehrer brauchen, ist aber grundverkehrt, auch ältere Schüler und Schülerinnen brauchen kompetente, sichere Lehrer, die in Krisensituationen zu handeln wissen und sich vor allem der Verantwortung ihrer Schutzbedürftigen gegenüber bewusst sind.
Kind sein dürfen
Diese aktuell am Gymnasium bestehende Kultur der fortwährenden Ignoranz bewirkt letztlich nichts weiter als das systematische Zerstören gefährdeter Menschen. Es wird Zeit, auch Gymnasialkinder endlich als Kinder zu betrachten, Kinder, die es manchmal schwer haben können, Kinder, die eventuell Hilfe brauchen oder Unterstützung.
Als Kinder, die nicht nur Mathe und Deutsch und Englisch lernen sollen, sondern auch, glücklich zu sein.