Was machst du, wenn du mal wieder so richtig schlechte Laune hast? Stellst du dir dann auch die Frage: „Kann ich nicht in einer Welt leben, wo ich immer glücklich bin?“? Stanislaw Lem beschreibt das in seinem Buch Der futurologische Kongress. Doch sind wir in der Zukunft wirklich glücklicher?
Mal wieder einer dieser Tage: Eins kommt auf’s Andere! In der Nacht ist es spät geworden und so springe ich in der letzten Minute aus dem Bett. Es ist fünf vor zehn. In zwanzig Minuten fängt das erste Seminar an – mehr als Zähne putzen ist also nicht drin. Rasch die Treppe heruntergehastet, sich zweimal den Kopf angestoßen und schon das nächste Unglück: Kaum steige ich mit Mühe auf mein Fahrrad (denn natürlich ist dieses auch noch ein paar Zentimeter zu groß für mich … Es wäre ja auch eine Überraschung, wenn das wenigstens gepasst hätte …) fängt es zu regnen an! Das darf doch wirklich nicht wahr sein!
An solchen Tagen ist meine Laune schon früh morgens im Eimer. Eine schwarze Wolke scheint über meinem Kopf zu schweben. Sie folgt mir den ganzen Tag. Das ist mir natürlich anzusehen. Mir sieht man meine Stimmung immer an, sagt meine Mutter und die muss es schließlich, nach fast zwanzig gemeinsamen Jahren, wissen. Aber nicht nur mir geht es so: Ich sehe jeden Tag viele Menschen, über deren Köpfen auch dunkle Wolken schweben. Ihren Gesichtern ist das genau abzulesen. Der Mund verkniffen, die Augenbrauen zusammengezogen, die Augen auf den Boden gerichtet.
Wie schön wäre es da, wenn man einfach die schlechten Gefühle ausschalten und fröhlich sein könnte! Kann es so etwas nicht geben? Was wäre das für eine Welt: Wir alle wären freundlich, froh und glücklich. Das wäre die perfekte Welt.
Ich selbst hätte sein Buch wohl nie in die Hand genommen, denn eigentlich lese ich keine Science-Fiction.
Gerade über eine solche Welt schrieb der Pole Stanislaw Lem in seinem Buch Der futurologische Kongress. Lem selbst wurde im Jahr 1921 als Sohn eines Arztes geboren. Er studierte Medizin, Philosophie, Biologie und Physik. Sein Studium wurde durch den zweiten Weltkrieg unterbrochen. Während dieser Zeit war Lem Automechaniker und gehörte der Widerstandsbewegung an. Mit gefälschten Papieren entkam er als Jude geradeso noch den Nationalsozialisten. Während dieser Zeit schrieb er schon diverse Science-Fiction-Bücher, wie „Solaris“ oder „Robotermärchen“. All seine Bücher thematisieren unsere Zukunft und haben oft auch einen philosophischen Hintergrund. Seit dem Jahr 1988 schreibt Lem nicht mehr, denn es gäbe für ihn in der Welt Wichtigeres als Schreiben.
Bevor ich Den futurologischen Kongress las war mir Lem als Autor kein Begriff. Jedoch ist er eine feste Größe in der Science-Fiction. Seine Bücher wurden in über 30 Sprachen übersetzt und er hat eine Weltauflage von mehr als 30 Millionen Exemplaren. Das macht ihn zu dem erfolgreichsten polnischen Autor der Gegenwart. Mit seinen Büchern hat er auch schon einige Preise gewonnen, wie den Franz-Kafka-Preis.
Ich selbst hätte sein Buch wohl nie in die Hand genommen, denn eigentlich lese ich keine Science-Fiction. Zuerst habe ich aber die Verfilmung im Kino gesehen. The Congress von Ari Folman lief im Jahr 2013 bei den Fantasy Filmfestspielen. Er basiert auf der Idee von Lem und wandelt diese teilweise ab. Außerdem ist er eine Mischung zwischen Realfilm und Zeichentrick, wobei die Zeichentrickfiguren von dem Zeichenstil der 60er Jahre inspiriert sind. Nach diesem Film musste ich also das Buch (Denn heißt es nicht, dass die Bücher besser als die Filme sind?) lesen.
Dünn ist Der futurologische Kongress und doch erzählt er eine große Geschichte. Wir erfahren sie durch Ijon Tichy, einem berühmten Raumfahrer, der auch in anderen Büchern von Lem vorkommt. Er besucht den achten futurologischen Kongress. Auf der Erde herrscht eine starke Überbevölkerung und während des Kongresses wird das Hotel angegriffen. Tichy, ein paar Wissenschaftler sowie die Hotelleitung retten sich in die Abwasserkanäle unter dem Hotel. Trotzdem wurden sie von den Bemben („Bomben menschlicher Brüderlichkeit“) getroffen. Die neue psychemische Kriegsführung setzt ein: Tichy durchlebt mehrerer Illusionen, die durch Chemie in der Luft ausgelöst wurden. Schließlich kann er nicht mehr zwischen Realität und Fiktion unterscheiden und wird schwer verletzt. Am Ende der Kampfhandlung wird Tichy eingefroren und wacht im Jahr 2098, dem Zeitalter der Psychemie, auf. Psychemie wirkt auf den menschlichen Geist und gaukelt ihm dabei alles Mögliche vor. Bücher beispielsweise werden nicht mehr gelesen:
„Endlich habe ich erfahren, wie man sich eine Enzyklopädie beschafft. Ja, mehr noch, ich besitze schon eine. Sie füllt drei Ampullen. Ich habe sie im wissenschaftlichen Bauchladen gekauft. Bücher liest man jetzt nicht mehr; man verschlingt sie. (…) In den Regalen liegen schön verpackte Arguminzen, Glaubsalz, Muliplikol in bemoosten Bocksbeuteln, Trubelin, Puritanzen und Ekstaside.“
Alles ist in der Zukunft wundervoll: Durch Fläschchen und Pülverchen kann jeder werden, was er will. Es gibt keine Überbevölkerung und keinen Krieg mehr. Alle Menschen leben im Wohlstand und können sich sogar Originalbilder von Rembrandt leisten… Hier sprüht Lem vor Phantasie und erfindet viel Unglaubliches.
Die Menschen bekommen einen Brei aus Abfällen zu essen und liegen aufeinander, um im kalten Schnee zu schlafen.
Aber irgendetwas scheint Tichy daran merkwürdig. Später findet er es heraus: Alles ist nur eine Illusion. Die Menschen werden mit Psychemie betäubt, damit sie die Realität nicht mehr sehen. In Wirklichkeit sind es mindestens 69 Milliarden Menschen auf der Welt und überall herrscht dichtes Gedränge:
„Zwischen den schmutzigen, sickerfleckigen Mauern herrschte Winter; von Lampen und Türstürzen hingen Girlanden glitschiger Eiszapfen; in der schneidenden Luft lag bitterer Qualm, bläulich wie der Himmel in der Höhe; vor den Mauern türmten sich schmutzige Schneehalden; Kehrrichtknäuel ragten heraus; an manchen Stellen lag etwas Schwarzes, etwas wie ein Pack Lumpen, ein großes Bündel; der ununterbrochene Strom der Fußgänger stieß diese Bündel hin und her, schleuderte sie mit Fußtritten zur Seite, in die Winkel, zwischen rostige Behälter, Dosen und eisverhärtetes Sägemehl.“
Die Menschen bekommen einen Brei aus Abfällen zu essen und liegen aufeinander, um im kalten Schnee zu schlafen. Tiere und Pflanzen sind schon seit Jahrzehnten ausgestorben. In der vorgespielten Welt jedoch merkt keiner etwas davon. Alle sind höflich, froh und glücklich … Tichy ist angeekelt und sieht sein Heil nur noch im Sturz aus dem Fenster. Da wacht er aus der Illusion auf …
Das Glück gehört denen, die sich selber genügen.
Dieses Buch macht all unseren Illusionen einer glücklichen Zukunft durch Chemie, die auf das Gehirn wirkt, ein Ende. Ebenso stellt es die Fragen auf: Bin ich wirklich glücklich, wenn ich alles sein kann, was ich will? Die einzige Bedingung: Ich muss eine Pille schlucken? Was ist Glück überhaupt? Muss ich dafür jeden Tag fröhlich sein?
Ich, für mich, kann es da nur mit dem Philosophen Arthur Schopenhauer halten. Er sagte zum Glück „Das Glück gehört denen, die sich selber genügen. Alle äußeren Quellen desselben sind unsicher und vergänglich.“ Für Schopenhauer ist illusionäres Glück, wie es im Dem futurologischen Kongress durch die Psychemie erzeugt wird, kein Glück. Nur Dinge, die wir uns selbst erarbeitet haben, wie eine gute Note, können uns langzeitig glücklich machen. Dieses Glück nennt sich das Erfahrungsglück. Auch im Zusammensein mit Freunden und Familie erfahren wir Glück, welches lang anhält und an welchen wir zehren können, wenn es uns schlecht geht.
Lange habe ich nach dem Lesen Des futurologischen Kongresses darüber nachgedacht. Ich werde wohl das nächste Mal, wenn wieder eine schwarze Wolke über meinem Kopf schwebt, an den letzten Spieleabend mit Freunden denken oder an die letzte Hausarbeit, die mir gut gelungen ist. Da wird der Wind der frischen Gedanken die Wolke wegpusten und meinen Kopf wieder freimachen. Beispielsweise für die ersten Frühlingsblumen, die auf der Wiese anfangen zu blühen. Oder ich werde mir Zeit nehmen ein neues Buch zu lesen. Vielleicht auch ein anderes von Stanislaw Lem. Denn eins hat dieser richtig erkannt:
„Vernunft ist die innere Freiheit.“