Brücken verbinden Ufer miteinander und können auch Verbindungen zwischen Menschen herstellen. Doch was passiert, wenn eine Brücke durch einen gewaltsamen Konflikt auseinanderbricht?
„In der wechselnden Reihe und im Verblühen der menschlichen Geschlechter blieb sie unverändert wie das Wasser, das unter ihr dahinfließt. (…) Ihr Lebensalter, wenn auch in sich sterblich, glich der Ewigkeit, denn sein Ende war nicht abzusehen.“ Mit diesen Sätzen wird die Hauptprotagonistin von Ivo Andrićs Buch „Die Brücke über die Drina“ charakterisiert: die Brücke über den besagten Fluss Drina. Um sie drehen sich alle Geschichten des Buches. Über sie müssen die Menschen der Stadt Wischegrad gehen. Um sie gibt es keinen Weg herum. Sie ist zentral. Sie begleitet das Leben der Menschen von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod. Mythen und Geschichten ranken sich um sie. Sie scheint die Zeit zu überdauern.
Geschichten vom Leben der Menschen
Zusammen mit der Brücke kann der Leser das Leben von Generationen beobachten und mitverfolgen, die alle in der kleinen Stadt Wischegrad aufwachsen. Zu Beginn des Buches wird vom Bau der Brücke im 13. Jahrhundert berichtet, dann verfliegen die Jahrhunderte bis der Leser in die Anfangsjahre des 20. Jahrhunderts ankommt und den Beginn des ersten Weltkriegs miterlebt. Andrić gestaltet die Geschichten, die sich rund um die Brücke abspielen, als eine Chronik der Stadt. Ebenso nüchtern liest sich das Buch. Kaum wird eine Person sympathisch, verschwindet sie im nächsten Kapitel im Staub der Geschichte und es bevölkert eine neue Generation die Brücke, die zeitlos erscheint.
Andrić hat sich zur Aufgabe gemacht seine Heimat und deren oftmals verworrene und fremdbestimmte Geschichte zu beschreiben. Die Stadt selbst liegt dabei im Grenzgebiet zwischen dem heutigen Serbien und Bosnien. Viel Zeit widmet sich der Autor seiner eigenen Zeit – dem Beginn des 20. Jahrhunderts. Dort wird es der, ehemals zum Osmanischen Reich gehörenden, Stadt österreich-ungarisches Staatsgebiet. Tempo nimmt das Buch am Ende auf, als nach dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger die Serben in der Stadt verfolgt werden und flüchten müssen. Das Buch gipfelt im letzten Kapitel mit der Sprengung der Brücke durch österreichisch-ungarische Soldaten: „Die Kapija war noch an ihrem Platze, aber unmittelbar hinter der Kapija war die Brücke unterbrochen. Der siebte Brückenpfeiler fehlte. Zwischen dem sechsten und achten Pfeiler gähnte eine Leere, durch die in schräger Sicht das grüne Wasser des Flusses durchschimmerte. Vom achten Pfeiler an setzte sich die Brücke wieder fort und lief bis zum andere Ufer, glatt, gerade und weiß, wie sie gestern und seit je gewesen war.“ Mit der Zerstörung der Brücke endet das Buch.
Für seinen Roman bekam Andrić 1961 den Literaturnobelpreis verliehen. Begründet wurde die Verleihung damit, dass Andrićs Roman die Schicksale des Landes aufzeige. Andrić selbst schrieb das Buch nachdem er sich aus dem diplomatischen Dienst, welchen er bis zum Jahr 1941 in Deutschland verrichtet hatte, zurückzog. Seine weiteren Romane kamen an den Erfolg von „Die Brücke über die Drina“ nicht mehr heran. Nach seinem Tod wurde in der realen Stadt Wischegrad neben der Brücke ein Denkmal für Andrić aufgestellt.
Ein Buch mit vielen Übertragungsmöglichkeiten
Andrić hat mit seinem Buch aber nicht nur über Vergangenes berichtet, sondern sein Roman lässt sich auf den Kosovokonflikt, der sich anhaltenden seit 1998 abspielt, übertragen. Doch was lehrt der Roman? Zwei Beispiele werden diese Anschlussfähigkeit veranschaulichen.
Zu aller erst lassen sich die Ausgangssituationen des Romans und des Kosovokonfliktes gleichsetzen: Im Roman leben, bis zum Attentat auf den Thronfolger, Christen und Muslime, Serben, Bosnier und Türken relativ friedlich nebeneinander. Es gibt Nachbarschaftsstreitigkeiten und die ethnischen Gruppen ignorieren sich die meiste Zeit, aber es herrschen keine gewalttätigen Auseinandersetzungen. Ähnlich war die Situation im ehemaligen Jugoslawien unter dem Diktator Tito. Hier wurde durch strukturelle Gewalt das Konfliktpotential in der Bevölkerung klein gehalten. Nachdem Zerfall Jugoslawiens wurden die Bestrebung einzelner Kräfte groß eigene Nationalstaaten zu bilden, was schließlich zum Streit um das Gebiet des Kosovo führte. Auch im Roman eine Befreiung der Stadt und des Staates aus der „Fremdherrschaft“ und die Befreiung aus der „Sklaverei“ verlangen. Es ist verblüffend wie ähnlich das Vokabular im Roman und in den Reden und Berichten aus den 1990ern sind.
Der zweite Übertragungspunkt setzt mit der Verfolgung von ethnischen Gruppen ein. Im Buch sind es die Serben, die nach dem Attentat in der Stadt systematisch verfolgt werden: „Männer, die vierzig Jahre lang in der Stadt das Wort geführt hatten, verschwanden über Nacht, als wären sie alle plötzlich, zugleich mit den Gewohnheiten, Auffassungen und Einrichtungen, die verkörperten, verstorben.“ Ähnliches lässt sich auch bei der Nationalstaatenbildung in den 1990ern im Balkan beobachten. Bevölkerungsgruppen, die davor mehr oder weniger friedlich zusammengelebt haben, begannen sich nun zu streiten, wer nun serbisch, kroatisch, bosnisch oder albanisch sei. Die Schriftstellerin Dubravka Ugrešić beschreibt als Augenzeugin in ihren Essays diesen Vorgang. Sie zeichnet auf, wie sich der Hass zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen sich auch in den Alltag der Menschen schleicht. Mit Beispielen, wie dem Verkauf von Dosen mit „sauberer kroatischer Luft“ erstellt sie das Stimmungsbild von Menschen auf Identitätssuche, die alles, was nicht zu ihnen und ihrem Weltbild gehört, ausschließen.
Auch Aussagen von Politikern der Zeit wird die Haltung der Bevölkerung dem Anderen, der vor kurzem noch ihr Nachbar war, deutlich. So sagte die serbische Propagandasprecherin, dass Muslime entartete Slawen sein. Jedem Europäer, der den zweiten Weltkrieg noch im Gedächtnis hat, läuft es bei solchen Aussagen kalt den Rücken herunter. In Wischegrad selbst wurde, als erste Amtshandlung der serbischen Soldaten, die die Stadt erobert hatten, das Denkmal von Andrić in die Luft gesprengt. Und in einer Nacht wurden in der Stadt 300 Muslime umgebracht.
Und die gesprengte Brücke?
Deutlich wird, dass Andrić viele Themen in seinem Roman aufbringt, die die Realität (leider) auch aufgegriffen hat. Sei es der Fremdenhass, die Verfolgung des Anderen oder das Zerstören von Bauwerken. Mit diesem Hintergrund hinterlässt die zum Teil gesprengte Brücke am Schluss des Romans einen bitteren Beigeschmack. Was bedeutet sie? Was bedeutet das Einreißen von etwas Verbindenden, wie eine Brücke? Was bedeutet es, wenn Soldaten als erstes das Denkmal jenes Schriftstellers, der über die Brücke berichtet hat, einreißen?
Klare Antworten gibt es auf die Frage nicht, aber deutlich scheint, dass sich die Konflikte verschärft haben. Sie sind nicht mehr Auseinandersetzungen, wie in den Jahrhunderten davor, in welchen sie der Brücke und damit auch der Stadt und den Verbindungen der Menschen untereinander, keinen Schaden zufügen können. Diese Konflikte hinterlassen Schäden, die sichtbar sind – an den Menschen und an den Bauwerken. Auch der Kosovokonflikt ist noch nicht beendet. Es gibt noch keine eindeutige Lösung, was mit diesem Landstrich und den Menschen, die dort leben, passieren soll. Serbische Nachrichtenseiten verkünden beispielsweise, dass es keine Gespräche über das Gebiet geben wird.
Niemand weiß, was in den nächsten Jahren im Balkan, eine Region, die von westeuropäischen Medien gern übersehen wird, noch passiert. Aber sicher ist, dass eine Lösung nicht einfach ist und viel Zeit brauchen wird. Es wird Zeit brauchen, um Brücken und Denkmäler aufzubauen, sodass sie wieder den Anschein erwecken, dass sie Jahrhunderte überdauern könnten.