Lets go Retro! – Warum in der Ferne alles Poesie wird

Am Übergang vom Jugend- zum Erwachsenenalter, wenn das Abitur hinter einem liegt und man mit dem Studium ein neues Leben beginnt, sieht man sich immer wieder mit folgenden Fragen konfrontiert: „Wer bin ich eigentlich?“ und „Wo will ich hin in meinem Leben?“
Jede Selbstfindung und SelbstERfindung geht auch damit einher, dass man sich fragt wo man eigentlich herkommt. Ist ja auch logisch, um zu wissen wohin mich mein Weg führen soll, muss ich erstmal wissen, wo ich stehe und wie ich dorthin gekommen bin. Man beginnt also, sich mit seiner Herkunft, seinen Eltern UND mit früheren Zeiten zu beschäftigen und das kann ziemlich spannend sein.

Bei mir fiel der beschriebene Prozess in die Ende der 90er Jahre. Der ganze Glam, das Geleckte, Gestellte, Schrille und Gekünstelte der 80er Jahre, in denen ich meine Kindheit verbracht hatte, war mir zuwider. Alles war auf Oberfläche und Konsum ausgerichtet gewesen und mit einer beginnenden kritischen Weltsicht und Reflektion gesellschaftlicher und politischer Prozesse stieg in mir das Bedürfnis auf, mich zu distanzieren, zu rebellieren und auch optisch ein Zeichen zu setzen dafür, dass ich anders war.
Zunächst plünderte ich hierfür den Dachboden und fand dort einfach unglaubliche Dinge: Batikkleider, indische Wickelröcke, die alten Go-Go-Boots meiner Mum, die ich tatsächlich so lange trug, bis sie auseinanderfielen, und eine riesige, mondäne Sonnenbrille mit der ich aussah wie eine Film Diva aus den 60ern (zumindest glaubte ich das damals). Der zum Bohemian Style passende Schmuck sowie ein nachtblauer Gehrock aus Samt fand ich dann auf dem Flohmarkt und mein Onkel eröffnete mir noch den für den Style und Lifestyle passenden Sound. So schwebte ich auf dem Soundtrack der Doors, Janis Joplins und den Beatles durchs Leben und trug mein Statement für eine bessere Welt für jeden sichtbar zur Schau, während meine Klassenkameraden zu stumpfer Technomusik abraveten und sich ebenso stumpf gegen sich und die Welt irgendwelche Drogen einschmissen.

Später während des Studiums bin ich dann noch weiter zurück gereist, in die Welt des dunkel melancholischen viktorianischen Zeitalters. Wahrscheinlich musste jedes Kleidungsstück schwarz sein, da auch die Fotografien aus dieser Zeit nur in schwarz-weiß überliefert sind: schwarze Korsagen, schwarze Röcke, schwarze Samthandschuhe und schwarze Stiefelchen. Alles optische Rebellion gegen die moderne Welt und ihre Missstände.

Kommilitonen, Freunde und Bekannte begegnete ich einer Gruppe von Mittelalterfreaks.

Doch konnte Retro auch andere Facetten annehmen, wie ich während des Studiums herausfand. Durch Kommilitonen, Freunde und Bekannte begegnete ich einer Gruppe von Mittelalterfreaks, die sich in die Zeit des finsteren Mittelalters zurück träumten (selbst wenn es damals noch keine Zahnärzte gab) und in ihrer Freizeit Kettenhemden herstellten oder unpraktische Gewänder ohne Reißverschluss nähten. Was mir zugegebenermaßen ziemlich abwegig vorkam und zudem nach „Weltflucht“ schmeckte. Ebenso wie die fürchterlichen Mittelalterromane, welche in diesen Kreisen die Runde machten.

Doch sind solch eskapistische Kreise kein Phänomen unserer Zeit: Es schwelgte schon die Romantik in Mittelaltersehnsucht und zur Zeit des Biedermeiers sehnte man sich in den 30jährigen Krieg zurück. Es wurden Erzählungen verfasst, die in dieser Zeit spielten wie Wilhelm Raabes Else von der Tanne und Bilder gemalt, die so naturalistisch wie möglich Szenen des 30jährigen Krieges nachstellten, worin Carl Friedrich Lessing ein Meister war. Die bürgerlichen Damen und Herren gingen sogar soweit zum Wochenendvergnügen berühmte Schlachten nachzustellen, in historischen Gewändern zu picknicken. Wohl erschien die biedermeierliche Zeit so in Spießigkeit versteinert, dass die Nachstellung des 30jährigen Krieges ein bisschen Abenteuer ins Leben brachte.

Auch Baukunst und Design griff immer wieder gern auf vergangene, vermeintlich glorreiche Zeiten zurück. Renaissance und Klassizismus auf die Antike, die Romantik auf die Gotik und der Historismus durchlebte von Beginn des 19. bis ins frühe 20. Jahrhundert gar die gesamte Epochengeschichte der Kunst, bis Jugendstil und Art Deco dem ein Ende setzten.

Eine Entdeckungsreise auf Omas Dachboden und ein Bummel über den Flohmarkt sind einfach super spannend. 

Vergleichbar mit dem Historismus finden wir heute die Retro-Moden: so wurde in den 60er Jahren der Jugendstil wieder entdeckt, in den 80er Jahren das Art Deco. In den 90ern war, wie schon geschildert, die Mode der 60er und 70er Jahre angesagt, die 2000er standen (zu meinem Schrecken) unter dem Stern der Wiederbelebung der 80er, dem geschmacklosesten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Und inzwischen sind wir im Retrotrend bei den 90ern angekommen.

Eines fällt auf: im Zuge moderner Medien werden die Intervalle der Moden und der Kreislauf der Wiederbelebung immer kürzer. Trotz unterschiedlicher Styles und Designs zeigt das Phänomen jedoch eines, das all diesen Retro Trends gemeinsam ist: das Bedürfnis danach, uns selbst zu finden und im Leben und der Geschichte zu verorten. Durch die Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppierungen und einem Lebensgefühl, für das verschiedene Zeiten Pate stehen, definieren wir uns. Durch Symbole, optische Codes und Zeichen bringen wir diese Zugehörigkeit und dadurch unsere Identität und unser Selbstbild zum Ausdruck. Egal ob 60ies, 70ies oder gar die ungeliebten 80er und die 90er.
Die „Psychologie heute“ veröffentlichte in der Juli Ausgabe 2016 eine Studie, in welcher nachgewiesen wurde, dass Kleidung tatsächlich nicht nur unsere Gefühle und unseren Charakter widerspiegelt, sondern tatsächlich unser Verhalten und unsere Fähigkeiten beeinflusst. So schnitten Menschen, wenn sie Business Look trugen bei kognitiven Aufgaben besser ab, als wenn dieselben Probanden in Jogginghosen gezwängt wurden. Auch zeigten sich Menschen in Freizeitkleidung hilfsbereiter, als uniform Gekleidete.
Der Gedanke, dass die gewählte Kleidung unsere Identität formt ermutigt und vielleicht ist das Sehnen nach einer früheren, vermeintlich besseren Zeit unter diesem Blickwinkel gar nicht mehr ganz so eskapistisch zu beurteilen. Vielleicht werden wir tatsächlich auch zu besseren Menschen, wenn wir uns unter diesem Vorsatz in mittelalterliche Kleidung, den Petticoat oder eben die Hippieklamotten früher Zeiten zwängen.

Aber ganz abgesehen davon: eine Entdeckungsreise auf Omas Dachboden und ein Bummel über den Flohmarkt sind einfach auch super spannend und man wundert sich, was man alles entdeckt. Es kommt einem vor wie eine Zeitreise oder ein Museum zum Anfassen. Und auch das Kleiden und Verkleiden ist ein Spiel nicht nur für Kinder, es macht einfach riesigen Spaß.

Wie wäre es also die nächste Geburtstagsfeier als Motto-Party aufzuziehen. Ich wäre ja für die 60er! 😉

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