Mit Dr. Freud durchs Wunderland – Wie der Konsum phantastischer Literatur die Seele formt

“One pill makes you larger, and one pill makes you small – And the ones that mother gives you, don’t do anything at all – Go ask Alice, when she`s ten feet tall.”

Diese Zeilen stammen aus dem Song „White Rabbit“ von Jefferson Airplane. Sie rezipiere Lewis Carolls „Alice im Wunderland“. Ein Buch, das in seiner Entstehungszeit nicht als Kinderbuch diskutiert wurde, das sich seitdem jedoch zum Kinderbuchklassiker entwickelte und seit seiner Entstehung Literatur, Film und Musik beeinflusste. Wie das Beispiel zeigt, sogar Einzug in die Popkultur fand.

Wer das Buch gelesen hat weiß wie ungewöhnlich das ist, denn „Alice im Wunderland“ ist alles andere als eine leicht verdauliche Abenteuergeschichte für junge Leser. Das Buch ist unheimlich, düster und löst an vielen Stellen Unbehagen hervor.

Als Kind gruselte es mich bei Szenen wie dem Sturz in den Kaninchenbau. Das Fallen in die Dunkelheit, ins Ungewisse ist ein Motiv der Haltlosigkeit, das sich sonst nur in Albträumen findet.

Alice betritt eine Welt, in der sie sich auf nichts verlassen kann. Selbst grundlegende, existentielle Dinge erscheinen unsicher. Nahrung und Getränke verlocken, doch dienen sie nicht der lebensnotwendigen Sicherheit, sondern verunsichern auch hier durch ihre unvorhersehbare Wirkung auf Körper und Geist. Veränderungen, welche diese fremde und bedrohliche Welt auf unsere Protagonistin ausübt, greifen tief in deren Identität. Nicht einmal das Selbst ist noch sicher.

Darüber hinaus bietet es einen unglaublichen, scheinbar unerschöpflichen Schatz an kreativem Potential.

In einer unsicheren Welt bieten uns Freunde und Mitmenschen Halt – das weiß jeder, der Kummer erlebt hat oder schwere Zeiten und Krisen erfahren musste. Aber auch hier enttäuscht das Buch, denn die Tiere, Menschen und phantastischen Wesen, denen Alice begegnet , sind alles andere als hilfreiche Geister, wie wir sie aus Märchen kennen. Sie sind weder empathisch, noch hilfreich, noch besonders freundlich. Also auch auf sozialer Ebene sieht Alice sich allein gestellt und verloren.

Ein düsteres Buch voller Ungewissheiten, ohne Happy End, beunruhigend und verstörend. Und das soll nun pädagogisch wertvoll sein?

Tatsächlich ist es das, so denke ich zumindest. Um mit Freud zu sprechen: das Buch führt uns in die Tiefen unseres Unterbewusstseins, eröffnet hinter verschiedenen Türen verborgene Ängste und verdrängte Persönlichkeitsanteile. Es ermutigt zur Reflektion, dazu Mut  zu finden und sich auf sich selbst und seine Stärken zu verlassen.

Darüber hinaus bietet es einen unglaublichen, scheinbar unerschöpflichen Schatz an kreativem Potential. Es inspiriert, regt zum Nachdenken an und somit fordert und fördert es den Leser und seine Gedankenkraft .

Und nicht zuletzt: Wer sagt, dass Kinderbücher immer vergnüglich sein müssen?  Sind nicht auch viele Märchen ziemlich grausam? Angefangen von Kannibalismus in „Hänsel und Gretel“ bis hin zu Motiven der Nekrophilie in „Schneewittchen“ und „Dornröschen“.

Eine Lust am Gruseln und am Unheimlichen scheint uns angeboren. Wie sonst erklärt sich der Erfolg von Büchern wie Bram Stokers „Dracula“, Mary Shellys „Frankenstein“ oder William Peter Blattys „Der Exorzist“? Und warum zeihen Horrorfilme wie „Der weiße Hai“ oder „Night oft he living Dead“ Millionen von Menschen in die Kinos.

Ganz einfach: weil wir uns gerne gruseln. Warum das so ist darüber rätseln Theoretiker und Philosophen seit Jahrhunderten. Edmund Burke spricht in seiner Schrift über das Erhabene vom „wohligen Schaudern“. Zeitgenössische Psychologen weisen die Entwicklung von Resilienz, sprich innerer Widerstandskraft, und moralischer Festigkeit durch die Auseinandersetzung mit Unheimlichem, Grusligem und schrecklichen Dingen nach.

Wir erleben die Fragilität unserer Existenz.

Ich denke an dieser These ist viel Wahres dran – denn tatsächlich sind Horrorfilme und –Geschichten immer auch ein Spiegel der Gesellschaft. In ihnen liegt eine subversive Kraft, die auf Verdrängtes, auf Missstände und unterdrückte Probleme hinweist. So wird im bereits genannten „Dracula“ die im prüden England des 19. Jahrhunderts als unheimlich empfundene Kraft der Sexualität thematisiert. Der Zombiefilm „Dawn oft he Dead“ kritisiert wie wir zu Marionetten der Konsumgesellschaft werden und weist darauf hin, wie fragil und sinnentleert dieselbe ist.

Darüber hinaus sind unheimliche Geschichten natürlich spannend und unterhaltsam und im (Mit)Erleben der psychischen und physischen Gefährdung unserer Protagonisten werden wir an unsere Grenzen geführt. Wir erleben die Fragilität unserer Existenz und gewinnen durch diese Empfindungen ein tieferes Verständnis für das Menschsein und eine Wertschätzung für das Geschenk des Lebens und seiner gesellschaftlichen Werte.

In diesem Sinne ermuntert, würde ich sagen: „Auf geht’s!“ Stürzt Euch kopfüber ins Kaninchenloch. Auch wenn ihr vielleicht nicht sofort als besserer Mensch heraus kommt, wird die Reise Euch auf jeden Fall zum Nachdenken und Erkennen Eurer Sehnsüchte, Ängste und Wünsche anregen und Euch so verändern!

 

 

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