Mordsgeschichten

Mord und Totschlag – Wie kann es sein, dass ein Genre, das so weniger Grundvoraussetzungen bedarf, eine solche Erfolgsgeschichte ist?

Dass Krimis zumindest in Deutschland der beliebteste Lesestoff sind, ist kein Geheimnis. Verschiedenste Studien, unter anderem zum Beispiel von Statista und im Auftrag des deutschen Buchhandels (2017-18) zeigen seit Jahren recht stabil, dass Krimis und Thriller mit Abstand den höchsten Marktanteil haben, noch vor den Sachbüchern. Als Gründe hierfür könnte man, wie es der Buchhandel selbst so oft angibt, die Vielfalt des Genres anführen, die erzeugte Spannung, die leichte Identifikation der Leser mit den Figuren… Aber legt sich die Mimi wirklich darum seit bald 200 Jahren mit einem Krimi ins Bett?

In Stadtbüchereien ist die Krimi-Ecke jedenfalls immer gut gefüllt und bietet meist eine Mischung aus Klassikern, Bestsellern und allem, was häufig ausgeliehen wird oder den Geschmack des Bibliothekspersonals trifft. Wenn man Zugang zu den aussortierten Büchern dieser Bibliotheken bekommt, erkennt man sofort: Krimis werden schnell ersetzt, sie bekommen als erste Eselsohren, krumme Rücken und ausgerissene Seiten. Sie sind Arbeitstiere, schnell gelesen und schnell vergessen. Zu manchen dagegen kehrt man zurück, wie zu einem alten Freund.

Papierene Trostpflaster

Meine eigene Liebesgeschichte mit dem Krimi ist fast so alt wie ich selbst. Immer, wenn die Welt um mich herum aus den Fugen gerät, wenn der Stress besonders groß ist und alles unerträglich erscheint, greife ich ins Bücherregal und nehme einen Krimi heraus. Nach den ersten Seiten habe ich die Welt um mich herum völlig vergessen und es stellt sich tiefste Entspannung ein. So half mir Dashiell Hammet bei Anpassungsschwierigkeiten in der Schule, Edgar Allan Poe und die vom Flohmarkt gesammelten Goldmann-Krimis in den schwersten Phasen der Pubertät, Agatha Christie in der Fernbeziehung und Erle Stanley Gardner während der schweren Krankheit meiner Mutter.

Gleichgültig, was in der Welt so passiert, sind die Tage schlimm und die Nächte dunkel, sterben die Opfer im Krimi zuverlässig auf mehr oder weniger spektakuläre Weise, ermitteln Detektive oder strickende Omas, verraten sich Mörder, bis die Lösung klar vor dem Leser steht. Denn das ist eines der Erfolgsgeheimnisse der Krimis: das Versprechen des gelösten Rätsels.

Von der Realität zur Fiktion

Die garantierte Lösung ist auch der wesentliche Unterschied des Kriminalromans zum Vorfahren moderner Kriminalliteratur – dem Fallbericht. Eigentlich ist es ja eher ein Cousin, denn bis heute erfreut sich True Crime einer bleibenden Beliebtheit.

Der kriminologische Fallbericht ist ein wirkliches Kind der Aufklärung, seit dem 17. Jahrhundert wurden immer wieder einzelne Berichte oder Sammlungen gedruckt. Das Verbrechen und, gegebenenfalls, seine Lösung werden dabei nur spärlich in eine moralisierende Erzählung eingebettet. Erst in dem Moment, in dem der Verbrecher als Schuldiger durch objektive Beweise überführt wird, ergibt sich das Verbrechen und seine Aufklärung als logisches Rätsel. Dabei werden auch die Hintergründe des Verbrechens für den Leser interessant, die Umstände und Details. Psychologie und Lebensumstände von Opfer und Verbrecher können aufgedeckt werden, eine Suche nach den Ursachen für die Geschehnisse und die dadurch aufgeworfenen Zusammenhänge zwischen den Individuen und der Gesellschaft.

Leider kranken Fallberichte an einem der unbefriedigenderen Aspekte der Realität: nicht immer gibt es eine Lösung, der Mörder wird nicht in jedem Fall gefasst, und selbst wenn gibt es für die Bestrafung keine Garantie. Denn das große Thema des Kriminalromans ist natürlich die Sühne der Schuld. Nur durch wissenschaftliche Methodik kann zweifelsfrei die Identität des Mörders festgestellt werden und dieser seine gerechte Bestrafung erhalten.

So gesehen erfüllen Krimis auch die Funktion der durch die Aufklärung immer selteneren öffentlichen Hinrichtungen – den Zuschauern wird die Wiederherstellung der Ordnung zugesichert. Wie stark dieser Gedanke, den der Strafe überwiegt, zeigen die teilweise symbolischen Hinrichtungen wie bei Oliver Cromwell, die zuweilen wie Volksfeste begangen wurden.

Dabei wird von Beginn an mit dieser Konstellation gespielt. Bereits eine der ersten Kriminalgeschichten, Edgar Allan Poes „Morde in der Rue Morgue“ (entstanden 1841, genau zehn Jahre vor der letzten öffentlichen Hinrichtung in Deutschland) weichen von dieser Vorgabe ab. Hier ist es mitnichten ein Verbrecher, der bestraft werden könnte, der die Morde begeht – es ist ein Tier, das nicht als verantwortlich für seine Taten betrachtet wird und somit auch nicht bestraft werden kann.

Massenphänomene

Von Beginn an waren Krimis Literatur für die Massen, häufig als Taschenbücher auf billiges Papier gedruckt und in großen Mengen nicht nur im Buchhandel sondern auch am Kiosk verkauft. Als Ergebnis kann man bis heute Kriminalromane gebraucht in rauen Mengen für sehr wenig Geld kaufen. Meine größte Bücherkiste kaufte ich als junger Teenager auf dem Schulbasar: Als die meisten Stände abgebaut wurden, entdeckte ich in einer Ecke einen ganzen Karton voller gelber Taschenbücher aus den 70er Jahren – Goldmann-Krimis. Der Besitzer des Standes wollte sie offenbar loswerden, denn er verkaufte sie für ganze 25 Pfennige. Mittlerweile bilden Krimis einen großen Teil der frei zirkulierenden Bücher in der Öffentlichkeit. Bücher, die frei in öffentlich zugängliche Bücherregale gestellt, auf Parkbänken liegen gelassen oder in Hauseingängen zum Mitnehmen ausgelegt werden. Sie kommen und gehen.

Schon der „klassischste Detektiv von allen“, Sherlock Holmes, war ein Massenphänomen. Mit ihm reizte Arthur Conan Doyle den Typus des intellektuellen Detektivs aus. Als Doyle versuchte, sich anderen Themen und Genres zuzuwenden, weil er den Krimi als zu einengend empfand, und dafür die Figur an den berühmten Reichenbachfällen sterben ließ, regte sich solcher Unmut in der Leserschaft, dass er nach nur wenigen Jahren Sherlock Holmes auferstehen lassen musste. Der Krimi bildet auch die Geburtstunde des modernen Fandom.

Nicht nur Doyle erging es so: Agatha Christies erster Kriminalroman stellt Hercule Poirot als leicht karikierten, alternden Polizisten in Rente vor. Der Detektiv ist 1920 bereits mindestens in seinen Sechzigern und gebrechlich, trotzdem lässt ihn Christie noch weitere 55 Jahre ermitteln. Sie lernt aber aus Doyles Fehler und stellt den Roman, in dem Poirots Tod erzählt wird („Vorhang“) in den 40er Jahren zurückstellen. Sie sorgt dafür, dass dieser erst 1975 kurz vor ihrem Tod veröffentlicht wird. Demnach müsste Poirot bei seinem Tod weit über hundert sein. Doch die Fans darf man nicht enttäuschen.

Diese und noch viele andere Autoren seit Poe widmen sich dem klassisch-britischen Whodunit: als logischen Rätseln inszenierten Fällen, bei denen die Protagonisten in einer engen Kulisse und abgeschlossenen Räumen ermitteln. Sie sind inszeniert wie Theaterstücke, was beabsichtigt ist und sie auch gut auf der Bühne spielbar macht: das weltweit am längsten laufende Theaterstück war Christies „Mausefalle“ – seit 1952 lief es täglich im Londoner West End und wurde erst durch den Beginn der Corona-Krise vom Programm genommen.

Eines der ersten Bücher, die ich aus dem Bücherschrank meiner Eltern stibitzte, war „Der gläserne Schlüssel“ von Dashiell Hammett. Ich verstand als Kind noch nicht viel, aber die unheilvoll-düstere Atmosphäre faszinierte mich. Die amerikanischen Harboiled-Novels der 1920er und 1930er Jahre, aus denen der Film Noir entstehen sollte, sind eine Abwandlung der Detektivgeschichte. Dashiell Hammett und Raymond Chandler stellen dem intellektuellen Spiel der britischen Detektive einen einsamen Wolf gegenüber, der in atmosphärisch dichten, düster-verkommenen Szenerien agiert. Das Rätsel um das Verbrechen steht hier wesentlich weniger im Vordergrund als eine klare Sozialkritik und Darstellung der zeitgenössischen Lebenswirklichkeit.

Häufig wird in diesen Romanen die eher klassische Interpretation von Schuld und Sühne ausgelebt – Rache und Gewalt, Gier und Korruption werden zu einem pessimistischen Revival des alten Western-Mythos. Marlowe ist nur ein Revolverheld in neuem Gewand. Diese Detektive kämpfen gegen das übermächtige System, anstatt es zu bestätigen. Sie lenken nicht die vorhandene Ordnung wieder in ihre Bahnen, sondern sollen eine neue, gerechtere erschaffen.

Ordnungshüter

Mit der Figur des „Kommissar Maigret“ erschuf Georges Simenon ungefähr zur selben Zeit schließlich den dritten Haupttyp des Ermittlers, den psychologisch agierenden Polizisten, der eher durch anstrengende und oft eintönige Polizeiarbeit zum Ergebnis kommt als durch geniale Eingebungen oder Aggression. Für mich stellt er die Grundlage für den Erfolg der deutschen Tatort-Krimireihe im Film dar. Wo zuvor meist Laien oder Privatdetektive die Fälle lösen, sind es hier Polizisten, deren berufliche Aufgabe es eben ist, die Gesellschaft vor dem Verbrechen zu beschützen.

Jeder Typus für sich dient aber demselben Zweck – durch die Anwendung wissenschaftlicher Prinzipien bekommt die Welt Struktur, wird gerechter, klarer und berechenbarer. So erklärt sich die Wirkung von Krimis in chaotischen Lebenslagen. Sie geben die Bestätigung, dass jedes Problem auf seine Weise lösbar sei. Mag das auch manchmal eine Illusion sein, ist es auf jeden Fall eine tröstliche Illusion. Es bleibt zu vermuten, dass die Verkaufszahlen von Kriminalgeschichten in Krisenzeiten höher sind, so wie dies schon für den Saum von Röcken oder für die Farbe von Lippenstiften kolportiert wurde.

Mithin gewinnt die Krimilandschaft mit den Jahren an Vielfalt. Perspektiven werden gewechselt, wie bei Patricia Highsmith oder Roald Dahl, die den Verbrecher als Identifikationsfigur ins Zentrum der Geschichte stellen. Die Welt kann durch Krimis bereist werden, denn es gibt nicht nur die mittlerweile sehr populären Provinzkrimis und Krimis für Touristen (vermutlich entwickelt als Reiseliteratur), tatsächlich sind Kriminalgeschichten im arabischen (Tausend- und eine Nacht) und chinesischen Raum (Richter Di) bereits wesentlich länger ein Teil der Alltagskultur als in Europa.

Heute, wo durch Corona das Reisen erschwert ist und die Welt aus den Fugen zu geraten scheint, ist der Krimi eine zuverlässige Möglichkeit, die Gedanken wieder in geordnete Bahnen zu lenken, und Panik und Verzweiflung entgegenzuwirken. Im Treppenhaus meines Wohnhauses liegen wieder drei neue Bände, und auch die Buchhandlungen freuen sich über einen Anruf, es mangelt also nicht an Stoff. Und wenn alle Stricke reißen, kann man sich auch selbst an einen Krimi wagen, ein Rätsel entwerfen, dass es zu lösen gilt und vielleicht auch einen ganz neuen Detektiv.

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