Die sieben Todsünden und die sieben Zwerge – Welche verborgenen Botschaften in Märchen stecken

Märchen sind so alt wie die Menschheitsgeschichte. Viele noch heute erzählte und verfilmte Geschichten haben sich über Jahrhunderte immer weiter entwickelt und auch wenn sich die historischen Verhältnisse geändert haben, wir nicht mehr in einer Agrar- oder Industriegesellschaft leben, sondern in einer modernen Informationsgesellschaft, haben uns diese Geschichten heute noch viel zu sagen.

Denn Märchen verzaubern den Zuhörer nicht nur als spannende Geschichte, Märchen faszinieren nicht nur durch ihre einfache und doch kraftvolle Sprache, Märchen verwandeln vor allem die Darstellung psychischer Prozesse und innerer Entwicklung in bildstarke Erzählungen. Märchen haben uns etwas zu sagen, sie vermitteln Botschaften und Weisheiten, helfen uns so in jedem Lebensalter, innere Prozesse zu verstehen, Kraft zu schöpfen und Krisen zu überwinden.

Märchen sind immer auch ein moralischer Kompass, der uns hilft das Richtige vom Falschen zu unterscheiden. Sie zeigen uns auf, was passiert, wenn wir den falschen Weg einschlagen und so finden auch die sieben Todsünden Darstellung im Märchen.

Schneewittchen: der Spiegel der Eitelkeit

Dass Eitelkeit, das narzisstische Bestreben, andere zu überflügeln und zu fürchten, jemand könnte uns übertreffen, schöner und besser sein, ins Verderben stürzt, zeigt uns das Mädchen Schneewittchen.
Die Stiefmutter, Prototyp einer narzisstischen Persönlichkeit, leidet an der Angst, Schneewittchen könne schöner sein als sie. Diese Furcht sitzt so tief, dass sie die Stiefmutter sozial isoliert, sie einsam und todunglücklich macht. Irgendwann beherrscht diese Furcht ihr Leben und wird zur Besessenheit, in einer Form, dass sie schließlich bereit ist, zur Mörderin zu werden.

In früheren Versionen des Märchens ist es nicht die Stiefmutter, sondern die Gemahlin des Königs, die durch die Affekte, die ihr Ehemann dem Findelkind Schneewittchen entgegenbringt, in Eifersucht entbrennt. Dieser Aspekt wird in der bekannteren Version der Grimms abgemildert, doch bleibt das Motiv des Narzissmus bestehen, manifestiert durch das Befragen des Zauberspiegels, welches Eitelkeit und Angst, auf Ablehnung zu stoßen zum Ausdruck bringt.

Doch auch Schneewittchen ist nicht vor Eitelkeit gefeit, zweimal muss es lernen, dass dem Narzissmus nachzugeben und sich durch den vergifteten Kamm oder den Zaubergürtel „noch schöner machen zu wollen“, es ins Verderben führt.

Tatsächlich sind das wohl Gefühle, die jeder von uns kennt, wir alle wollen schön und damit geliebt sein. Das Märchen zeigt uns jedoch auf, welche Gefahr von übermäßiger Eitelkeit ausgeht und dass es uns letztendlich in Einsamkeit und Verderben führt, wenn wir uns von diesen Emotionen leiten lassen.

Die Spindel und der Apfel: Wollust

Neben der Eitelkeit ist Schneewittchen voll von Anspielungen auf die Sexualität und der Entwicklung hin zu einem reifen Umgang mit der Lust. Die drei Tropfen Blut, die in den weißen Schnee fallen, als die Mutter sich in den Finger sticht, symbolisieren den sexuellen Akt, der zur Geburt Schneewittchens führt.
Eigene sexuelle Erfahrungen macht Schneewittchen dann, als es den roten Teil des Apfels isst. Doch ist sie in diesem Moment noch nicht reif für einen gesunden Umgang mit der eigenen Sexualität. Zu früh erliegt es der Verführung, den der Apfel symbolisiert.

Auch Dornröschen, eine Märchenprinzessin aus einer anderen Erzählung, wird vom Verbotenen, Geheimen, der Sexualität gelockt und auch hier ist das Stechen mit der Spindel ein phallisches Symbol, welches die erste sexuelle Erfahrung andeutet, für welche die Prinzessin noch nicht reif ist.

Beide, Schneewittchen und Dornröschen fallen daraufhin in einen todesähnlichen Schlaf, welcher eine innere Verwandlung andeutet, erst als diese abgeschlossen ist und die Mädchen zu Frauen gereift und bereit für eine sexuelle Beziehung sind, erwachen sie. Symbolträchtig ist das Öffnen der Knospen und das Erblühen der Rosen im Märchen Dornröschen: aus dem knospenden Mädchen ist die blühende Frau geworden.

Die Auseinandersetzung mit Lust, die Verlockung, Verführung, aber immer auch wieder Gefahr bedeutet, wird häufig thematisiert in Märchen. Rotkäppchen ist ein Märchen, in welchem das Mädchen ebenfalls vom rechten Wege abkommt, verführt von den Verlockungen am Wegesrand. Der Wolf, welcher die ungezügelte, männliche Sexualität versinnbildlicht, verschlingt es und ähnlich wie Dornröschen und Schneewittchen ist es erstmal zu einem todesähnlichen Zustand, im Bauch des Wolfes verharrend verbannt.

Erst die Jägerfigur, eine männliche Gestalt, die Schutz und Potenz gleichzeitig verkörpert, holt Rotkäppchen wieder aus dem Dunkel und führt es in über in eine neue Entwicklungsstufe und einen kontrollierten und beherrschten Umgang mit der eigenen Lust.

Gier und Völlerei: das Lebkuchenhaus im Walde

Dass nicht nur sexuelle Verlockungen ins Verderben führen, sondern auch die Völlerei, die Gier und das nicht genug bekommen können, zeigt „Hänsel und Gretel“. Bereits zu Anfang wird der Mangel und die Not thematisiert und die daraus sich entwickelnde Gier nach mehr. Die Eltern, die gezwungen sind, ihre Kinder im Wald auszusetzen, verdeutlichen, dass Not dazu führt, dass man nur noch an sich selbst denkt und drückt gleichsam die Furcht des Kindes aus, zurück gestoßen zu werden, sinnbildlich gesprochen nicht nur an Nahrung, sondern auch an Liebe Mangel zu  leiden.
Wie verlockend erscheint da das Lebkuchenhaus, auf welches die Kinder im Wald stoßen, ganz aus Zuckerguss, Lebkuchen, Fensterglas aus Zucker gemacht, drückt es das Sehnen der Kinder nach Nahrung und einem beschützenden zu Hause aus. Die Kinder sind jedoch vor Gier nicht zu bremsen und beginnen, das Haus zu verschlingen. Die Hexe, welche als Menschenfresserin aus dem Inneren tritt, verkörpert letztendlich genau diese Gier, die den Menschen in den Untergang führen kann.
Erst die Zügelung von Gier und Fresslust, das Einsetzen des Verstandes über das Lustprinzip ermöglicht es den Geschwistern, ihre eigenen Dämonen zu überwinden und die Triebe in ihrem Inneren, symbolisiert durch die Hexe, zu vernichten.

Das kalte Herz: Trägheit und Geiz

Auch die im 19. Jahrhundert entstandenen Kunstmärchen und viele Erzählungen aus dieser Zeit beinhalten wie die alten Märchen gleichnisartige Warnungen vor Fehlverhalten. So tausch in Wilhelm Hauffs Geschichte „Das kalte Herz“ angetrieben von Ehrgeiz ein junger Mann sein Herz gegen einen Stein. So wird er gefühllos und angetrieben von seinem Streben nach Reichtum und Geld. Dieses nutzt er nicht, sondern hortet es und behütet es geizig, wie in alten Märchen die Drachen ihre Schätze bewachten. Gleichsam wird sein Herz nur noch stumpfer. Nur die Liebe einer jungen Frau kann ihn schließlich retten.

Dass Besitz stumpf macht und zum Ballast werden kann, der uns ins Unglück führt, zeigen auch viele alte Märchen. Beim Fischer und seiner Frau führt die sich steigernde Gier dazu, dass die Situation sich am Ende genauso ausweglos entpuppt wie zu Beginn und auch Charles Dickens Weihnachtsgeschichte thematisieren den Zusammenhang zwischen der Trägheit und Abgestumpftheit des Herzens und Gier nach materiellen Dingen. Hier wird gezeigt, wie uns diese Eigenschaften in Einsamkeit, Isolation und Unglück stürzen.

Der Kreis schließt sich: vom Zorn zur Eitelkeit

Auch die letzte der sieben Todsünden, der Zorn macht uns einsam. Dargestellt wird dies in „Die Gänsehirtin am Brunnen“, in welcher ein Vater seine Tochter davonjagt. Verärgert ist er, weil ihm diese auf die Frage, wie sehr sie ihn liebe, antwortet: „So sehr wie das Salz in der Suppe.“

Hier schließt sich der Kreis, denn es ist die verletzte Eitelkeit, das uns selbst zu wichtig nehmen, welches Zorn und Wut heraufbeschwört. Wir fühlen uns vom Gegenüber nicht wertgeschätzt, in Frage gestellt und dadurch verunsichert und ängstlich. Doch dass diese Empfindungen eher in uns selbst wurzeln, weil wir uns zu wichtig nehmen, wird uns im Augenblick der Kränkung nicht bewusst.

Letztendlich sind die sieben Todsünden alles Charaktereigenschaften, die menschlich sind und die jeder von uns in sich trägt. Die Geschichten zeigen jedoch, dass sie in übertriebenem Maße dazu führen, dass wir uns selbst und anderen schaden. Eine Überwindung der Verhaltensweisen führt uns zu einem reiferen und glücklicheren Dasein. Dies ist dann auch die Botschaft vieler Märchen.

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